Nachdem die diktatorischen Staaten in Ostmitteleuropa seit 15 Jahren auf dem Weg zu Demokratie und europäischer Integration sind und auch die westeuropäischen Stereotypen und Denkmuster zerbröseln, ist das Erinnern auf der politischen Agenda nach vorne gerückt. Erinnerungskultur hat sich besonders seit 1990 etabliert als eine neue Kulturwissenschaft, in die – wie der Göttinger Historiker Otto Gerhard Oexle meint – traditionelle Fächergrenzen eingeebnet werden und zu denen die Frage nach Gedächtnis, Erinnerung und Gedenken in Geschichte und Gegenwart gehört. Historische Kulturwissenschaft will dem Vergessen etwas entreißen und Gedanken erhalten. Ob man sich wissenschaftlich oder künstlerisch der Vergangenheit zuwendet, man wird auswählen, zuordnen und bewerten und trotz aller Mühen im Netzwerk politischer Koordinaten bleiben.
Wenn schon Etienne François und Hagen Schulze fragen, ob es überhaupt eine deutsche bzw. französische Geschichte gebe, und diese in die Globalgeschichte Europas aufgehen lassen, wenn sich also zwei ausschließlich dominante Kulturnationen in Europa souverän in die europäische Kulturgeschichte delegieren, wird es für kleinere Kulturnationen und -regionen schwerer, sich zu behaupten, wahrnehmbar zu bleiben. Denn der Abschied von Ideologie und Tabu und damit der Abschied der ethnisch oder sprachlich begründeten Nationalkulturen ist damit angezeigt. Das beunruhigt nicht nur die tschechische Regierung und erklärt den »durch nationalistische Rhetorik gefärbten Euro-Skeptizismus des tschechischen Staatspräsidenten« (Ingeborg Fiala-Fürst). In Polen ist dies nicht grundlegend anders. Auch dort wird befürchtet, der Europäisierung der Gesellschaften nicht standhalten zu können, eben zu verschwinden in einem Globalstaat.
Wo bleiben die alten Landschaften, wo liegt Masuren? Wer den Namen Masuren langsam ausspricht, intoniert den Klang einer Region, die märchenhaft weit zurückzuliegen scheint, einer Landschaft, die sich kulturhistorisch der klaren Zuordnung entzieht. Es ist ein unbehauster, doch sehr europäischer Landstrich inmitten des alten Kontinents.
Der von der Kunsthistorikern und Slawistin Hanna Nogossek initiierte Fotoband Fremde Heimat. Alltag in einem masurischen Dorf versammelt textliche und bildliche Eindrücke des Historikers Mathias Wagner, ergänzt durch ein luzides Vorwort von Andreas Kossert und eine sanfte Nachbemerkung der anmutig formulierenden Publizistin und Dokumentarfilmerin Ulla Lachauer. Wer diese Fotoserie durchblättert, wird eingefangen von der Schönheit der dunklen Seen, die in rosa Wolken auszulaufen scheinen, von Gehöften, um die sich Nebelbänder schlingen, von leeren, von blaugemusterten Decken überzogenen Sofas in der Nachbarschaft von Schürzen an Türhaken, von Weizengarben, zusammengestellt auf einem herbstlichen Feld unter einer dramatisch aufgebauschten Wolkenlandschaft. Überall Stilleben, die den Atem anhalten.
Noch stärker werden den Betrachter die Bilder vom harten, der Landschaft geradezu abgerungenen Leben der dörflichen Bewohner ergreifen, die mit Fahrrädern hantieren, die sie zum Transport von Milchkannen benutzen, er wird sehen, wie sie ermattet ausruhen auf windschiefem Möblement, und er wird in Gesichter schauen, die so verwittert und gegerbt sind, daß sie alterslos wirken. Die Fotos, zum Teil schwarzweiß und manchmal sepia-bräunlich eingefärbt, überwiegend jedoch farbig, nehmen den Betrachter schon beim ersten Begegnen auf, ja sie scheinen zu riechen nach Erde, Feuer, Kälte, Schweiß, zu klingen in fernen, langsam verwehenden Lauten.
»Der Kirchenschlüssel befindet sich im Haus Nr. 52 (gegenüber der Post)«: Dieses Türschild ist Signum eines Dorfes in Masuren, das sich nur zögernd dem Betrachter öffnet. Daß es dennoch gelingt, daß es möglich ist, mehr zu erfahren, als diese Bilder mitteilen können, ist den Texten zu verdanken, den Episoden und Erzählungen, die die Menschen des Dorfes Orlowo Mathias Wagner anvertraut haben und die er mit eigenen Eindrücken zurückhaltend, aber mit Zuneigung verbindet. Ein Jahr blieb er ab dem Sommer 1995 in diesem Ort in Polen.
Masuren ist ein Landstrich voller Verluste, vielleicht ist es das Charakteristische dieser Region, immer verloren zu haben, immer neu zugeordnet zu werden. Masuren läßt sich nicht auf einen Begriff bringen, obwohl deutsche und polnische Nationalisten das immer wieder versucht haben. Es wurde entweder germanisiert oder polonisiert.
Schon um 1226 beauftragte Konrad von Masowien den Deutschen Orden mit der Christianisierung der Prußen. Aus dem polnischen Herzogtum Masowien kamen seit dem 14. Jahrhundert Siedler in die südlichen und südöstlichen Waldregionen des Deutschordensstaates und des späteren Herzogtums Preußen. Diese gaben der Landschaft den Namen. 1525 übernahmen nach der Säkularisierung des Ordensstaates auch die polnischen Untertanen des neuen Herzogtums Preußen (bis 1656 im Lehnsverband der polnischen Krone) den evangelischen Glauben, den Protestantismus. Und so entstand eine polnischsprachige evangelische religiöse Minderheit, welche die politische und kulturelle Loslösung Masurens von den polnischen Herkunftsregionen auslöste.
Andreas Kossert verweist darauf, daß das masurische Polnisch, das auf dem Lande gesprochen wurde bis 1945, auf die masurischen Dialekte des 14. und 15. Jahrhunderts zurückgeht und daß durch die territoriale und konfessionelle Abgrenzung gegenüber den masurischen Herkunftsregionen der in Masuren gesprochene polnische Dialekt von neuzeitlichen Sprachentwicklungen des Polnischen weitgehend unberührt geblieben sei. Durch die lutherische Religion entstand ein Identitätsbewußtsein. Bemerkenswert ist die starke Bindung der Masuren an den preußischen Staat; sie verstanden sich als »polnische Preußen«. Die kleindeutsche Reichsgründung 1871 löste dann eine massive Germanisierung aus unter dem Oberpräsidenten Karl-Wilhelm von Horn, so daß ab 1873 Polnisch aus den Schulen und Kirchen weitgehend verschwand und Deutsch die dominante Sprache wurde. Am Ende des Ersten Weltkrieges 1918 war umstritten, ob Masuren Polen oder dem Deutschen Reich zugeschlagen werden sollte. Die Volksabstimmung brachte dann ein eindeutiges Ergebnis: 99,3 Prozent stimmten für einen Verbleib Masurens bei Ostpreußen und somit bei Deutschland. Auf diesem Votum aufbauend konnte sich die NSDAP später mit ihrer Deutschtumsideologie präsentieren. Dies führte im Jahre 1932 zu einem Wahlsieg der Hitlerpartei von 65 bis 80 Prozent.
Der Zweite Weltkrieg verheerte das Land wie andere Teile Europas. Die sowjetischen Truppen deportierten fast alle arbeitsfähigen Männer zwischen 17 und 60 zur Zwangsarbeit nach Sibirien. Schon in der Konferenz von Jalta am 5. Februar 1945 artikulierte Polen den Anspruch auf Masuren als »urpolnisches« Land, das mit dem »Mutterland« Polen vereinigt werden müsse. In den 40er und 50er Jahren nahm der Druck der Polonisierung zu, so daß sich viele deutsch fühlende Masuren gezwungen sahen, »hinter die Oder«, also nach Deutschland auszureisen.
Dies war im Jahre 1956 zum ersten Mal möglich. Das Land verlor die alten Familien. Ganze Dörfer wurden Stein für Stein abgetragen, um das von den Deutschen zerstörte Warschau wiedererstehen zu lassen. Masuren wurde eine in vielfacher Hinsicht ausgebrannte Landschaft. Die polnische Bevölkerung kam im Zuge großer »Repatriierungsmaßnahmen« vor allem aus den ehemals polnischen Ostgebieten in diese Region. Neben Polen waren es vor allem Ukrainer, die jetzt dort eine neue Heimat aufbauen mußten. Das friedliche Zusammenleben von Polen und Ukrainern in Galizien und in Wolhynien war schon seit dem Ersten Weltkrieg nicht mehr möglich. Die neuen Grenzziehungen nach 1945 führten zur Zwangsaussiedlung der Menschen von dort. 140 000 Ukrainer kamen der »Aktion Weichsel« aus den Wojewodschaften Rzeszów, Lublin und Krakau nach Pommern, Niederschlesien und eben nach Masuren. Um sicherzustellen, daß die neue Bevölkerungsgruppe der Ukrainer keine Gefahr darstellte für den polnischen Nationalstaat, durften in einem Dorf nur 10 Prozent Ukrainer wohnen, und sie wurden zudem angewiesen, mindestens 100 km von den Landesgrenzen entfernt zu leben. Erst später durften sie ihre Geburtsstätten wieder besuchen und auch in ihre alte Heimat zurückkehren.
Viele blieben jedoch so in dem Dorf, das Mathias Wagner besuchte, in Orlowen, das Adlersdorf hieß und heute Orlowo heißt. »Ich wollte nicht auswandern«, sagt einer der Deutschen aus der Runde, »aber mein Vaterland wanderte aus, und so ging ich hinterher.« Das Vaterland kam vielen Masuren abhanden, Deutschen, Polen, Ukrainern, und immer wieder mußten sie sich neue Heimaten suchen. Über die Menschen, die dennoch dort leben wollten und so sehr Geschlagene der Kriege, Vertreibungen und nationalistischen Zuordnungen waren, berichtet dieses wunderbare und so aufrichtige Buch.
Die Texte und Bilder bringen eine Landschaft zum Klingen, die aller Aufmerksamkeit und Zuwendung wert ist. Masuren spiegelt Europa in seiner Abgründigkeit und in seiner landschaftlichen Schönheit gleichermaßen. Die Menschen wollen nicht weiter bevormundet werden, sondern ihr Lebensglück suchen in ihrem Horizont, in dem Lebenskreis, der ihnen die ganze Welt ist. Europa hat eine Seele auch in Masuren, in dem märchenhaft fernen und doch so nahen Landstrich im Herzen unseres alten, zersplitterten Kontinents.
(Erschienen in der Kulturpolitischen Korrespondenz 1199 vom 10.03.2005)