Eine „heikle Frage“ sollte im Mittelpunkt des 9. deutsch-tschechischen Symposiums stehen, das vom 31.10. bis zum 03.11.2002 in Furth im Wald stattfand: das Verhältnis der Sudetendeutschen zum Nationalsozialismus.
Um sich dem Thema zu nähern, sei es nötig, überkommene Mythen in Geschichtsbild und Selbstverständnis zu hinterfragen, meinte Nicole Sabella in ihrer Begrüßungsansprache. Sie ist Vorstandsvorsitzende der Sudetendeutschen Jugend in Bayern, die gemeinsam mit ihrer tschechischen Partnerorganisation Sojka die alljährlichen Symposien in dem zwischen Bayerischem Wald und Böhmerwald gelegenen Städtchen veranstaltet. Während des Symposiums 2001 – es stand unter dem Titel „Erinnern – aber wie?“ – war den jungen Leuten ein Hang zur Verdrängung seitens der „Erlebnisgeneration“ der Vertriebenen aufgefallen, etwa als sie feststellten, dass im Marktredwitzer Egerland-Museum der Zeitraum von 1938 bis 1945 fast völlig ausgespart wurde. Dem wollten sie mit der diesjährigen Veranstaltung abhelfen.
Die Geschichte als dynamischen Prozess zu betrachten, legt schon der Auftakt der Veranstaltung nahe: Während einer Nachtwanderung werden parallel zwei Zeitzeuginnenberichte über die ersten Tage der so genannten Sudetenkrise verlesen, die mit der Radioansprache Adolf Hitlers vom 12.09.1938 begann und in der Unterzeichnung des Münchner Abkommens gipfelte. Es handelt sich dabei um bisher unveröffentlichte Manuskripte aus dem Bezirksarchiv in Cheb/Eger, die zwei verschiedene Perspektiven einnehmen: die Erinnerungen der aktiven Sozialdemokratin Marie Lippert und das Tagebuch der Ottilie M., die „ihren Führer“ sehnlich erwartet hat. Die Texte werden bewusst nicht kommentiert, und schon hier scheint ein Motiv auf, das innerhalb der nächsten Tage immer wieder anklingen soll: das schwierige Verhältnis zwischen persönlicher Wahrnehmung und „historischer Wahrheit“. Denn man möchte meinen, dass die beiden Frauen über zwei völlig verschiedene Ereignisse berichten, obwohl sie beide unter den erst 1913 geprägten und seither oft politisch instrumentalisierten Sammelbegriff „Sudetendeutsche“ fallen und sogar im selben Ort wohnten. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger werden die 22 TeilnehmerInnen – größtenteils StudentInnen, davon die Hälfte aus der tschechischen Republik – angeregt, über Sinn und Unsinn ethnischer Festschreibungen nachzudenken.
Was aber hält die Sudetendeutsche Jugend zusammen, was möchte sie erreichen? Ihre Dachorganisation, die Sudetendeutsche Landsmannschaft, hat lange Jahre ein Rückkehr- und Heimatrecht gefordert; dieses Ziel ist jedoch spätestens seit dem Deutsch-Tschechoslowakischen Nachbarschaftsvertrag 1992 obsolet geworden. Die Sehnsucht der Älteren nach der „verlorenen Heimat“ kennen ihre Enkel nur noch vom Hörensagen. Nicole Sabella sieht die Zukunft der SdJ-Jugendarbeit daher auch weniger in der Pflege von Ideologien als in konkreten Projekten wie dem traditionsreichen Gaisthaler Jugendcamp, in dem tschechische und deutsche Jugendliche gemeinsam ihre Ferien verbringen. Auf der Basis persönlicher Begegnungen wird ein neues Ziel ins Auge gefasst: an gemeinsame Traditionen anzuknüpfen, um der Vision Europa näher zu kommen. Voraussetzung dafür ist natürlich auch, das Trennende, Störende zu thematisieren, das gerade im Zusammenhang mit den Beneš-Dekreten wieder an die Oberfläche gespült wird. „Auf keinen Fall“, so Iris Wild, Sabellas Stellvertreterin, „möchten wir nur die Deko-Jugendlichen auf den Weihnachtsfeiern der Landsmannschaft sein“. Dazu gehört auch, unbequeme Fragen zu stellen.
Als Kontrapunkt zu den Zeitzeugenberichten haben die Veranstalter kompetente Gäste eingeladen, die das Thema aus der Sicht von Historie und Politik beleuchten sollen; alle Vorträge und Diskussionen werden ins Deutsche oder Tschechische übersetzt, wobei sich die DolmetscherInnen aus den eigenen Reihen rekrutieren. Am Freitag gibt Miroslav Breitfelder, Dozent am Lehrstuhl für Geschichte der Universität Pilsen/Plzeń, einen Überblick zur Geschichte der Sudetendeutschen Partei (SdP). Im Zentrum steht dabei die widersprüchliche Figur des SdP-Führers Konrad Henlein, der sich vom Fürsprecher der Tschechoslowakischen Republik zum Verfechter der „Heim ins Reich“-Parole entwickelte. Das Plenum bewegt anschließend die Frage, ob jene 87% aller Sudetendeutschen, die 1938 für die SdP gestimmt hatten, sich der Tragweite ihrer Entscheidung bewusst waren. Breitfelder schätzt ein, dass vielen die Alternative fehlte und der Kurs der Partei zu jener Zeit noch unklar war.
Danach referiert Albrecht Schläger, vertriebenenpolitischer Sprecher der SPD, zum Thema „Das Sudetenland – Vergangenheit und Zukunft“. Als einen „deutschen Selbstbetrug“ bezeichnet er die Einstellung, das Münchner Abkommen hätte den Sudetendeutschen zur Selbstbestimmung verholfen. Die deutsch-tschechische Zukunft sieht er hingegen betont optimistisch und begründet seine Haltung mit bereits laufenden nachbarschaftlichen Projekten wie dem grenzüberschreitenden Bahnverkehr im EgroNet oder der EUREGIO EGRENSIS. Als Aufforderung zum offenen Umgang mit der Geschichte stellt er die Brannenburger Thesen der Seliger-Gemeinde vor, die sich als „Gesinnungsgemeinschaft sudetendeutscher Sozialdemokraten“ versteht. Noch ungelöste Probleme könne man besser nach und nicht schon im Vorfeld der EU-Osterweiterung in Angriff nehmen, schließt Schläger seinen Blick in die Zukunft: eine Einschätzung, die das Plenum nicht durchweg teilt; so wird auf mögliche Folgen des Beitritts Tschechiens für die regionale Wirtschaft beiderseits der Grenze und auf die EU-Skepsis der tschechischen Landbevölkerung hingewiesen.
Mit einem Konzert des jungen tschechischen Pianisten Radim Vojíř klingt der erste Tag stimmungsvoll aus; Programmauswahl und an die Wand projizierte Fotos aus dem Bezirksarchiv Cheb wollen an seinen jüdischen Kollegen Rudolf Serkin erinnern, der 1903 im damaligen Eger geboren wurde.
Am Samstag bietet Freia Anders, die an der Universität Bielefeld über die nationalsozialistische Strafjustiz im ehemaligen Sudentenland forscht, einen Abriss zur Sozialgeschichte dieses Gebietes. In den Mittelpunkt stellt sie dabei die Hegemonialpolitik des deutschen Reiches in den Sudetengebieten und die Germanisierungsbestrebungen gegenüber der tschechischen Bevölkerung. Besonders auf die Enttäuschung der Sudetendeutschen darüber, nach dem „Anschluss“ 1938 als Deutsche zweiter Klasse behandelt worden zu sein, führt Anders die Selbstwahrnehmung vieler Vertriebener als „doppelte Opfer“ zurück. Ob die Vertreibung rechtens war, möchte sie nicht beurteilen; dies sei eine moralische Frage, die nicht die Geschichtswissenschaft beantworten könne. Zu guter Letzt hat die Referentin selbst eine Frage an das Plenum: „Was habt ihr davon, euch mit diesem Thema zu befassen?“ – Ein Anlass für Jitka Chmelitková vom Bezirksarchiv Cheb, ein Resümee zu ziehen. Sie stelle immer wieder fest, dass sich der Umgang der Deutschen und der Tschechen mit der Vertreibung in einem Punkt stark ähnele: in dem Bestreben, eigene Verantwortung zurückzuweisen. Deshalb könne ohne einen Austausch von Informationen, wie er auf dem Symposium stattgefunden hat, keine Versöhnung zustande kommen. Dass diese Informationen nicht im Kreis von Auserwählten bleiben, dafür wollen besonders jene anwesenden StudentInnen sorgen, die sich gerade auf den Lehrerberuf vorbereiten.
Um den Versöhnungswillen des bunten Völkchens, das beim abschließenden „Tanz'l-Abend“ – unter fachkundiger Anleitung der „Böhmerwaldjugend“ – zur Sternpolka durch den Festsaal des Alten Rathauses wirbelt, muss man sich also sicher keine Sorgen machen. Wie die Sudetendeutsche Landsmannschaft auf die Erkenntnisse ihres neugierigen Nachwuchses reagiert, das wird sich zeigen.
(Vera Schneider ist Germanistin und promoviert als Stipendiatin der Friedrich-Ebert-Stiftung über die Grenzwahrnehmung in der Prager deutschen Literatur.)