In Polen verlaufen universitäre Feierlichkeiten noch ganz in alteuropäischem Glanz. Die Dekane erscheinen in Purpur und Hermelin, Studentenchöre singen „Gaudeamus igitur“, die Universitätskirche erzittert unter Beethovens Neunter. Wenn dann noch der schlesische Barock die Kulisse abgibt, der über der prächtigen Aula Leopoldina thronende Habsburgerkaiser Leopold I. seinen Segen gibt, werden alle Menschen Brüder. So geschehen an diesem Wochenende in Breslau (Wrocław).
Die Universität feierte im Beisein der Präsidenten Aleksander Kwasniewski und Johannes Rau und des österreichischen Senatspräsidenten Ludwig Bieringer 300 Jahre eines sehr wechselvollen Bestehens.
Eine Debatte über die „intellektuelle Einheit Europas“ stand auf der Tagesordnung, die die Staatsoberhäupter - was kein Fehler war - eher fröhlich als wissenschaftlich angingen. Doch im Gedächtnis bleiben wird die Rede des Historikers Fritz Stern, der zum Ehrendoktor promoviert wurde. Als deutscher Jude in Breslau geboren, früh emigriert, begreift er sich heute als Amerikaner, und es gelang ihm mit dem Blick eines entfernten Verwandten, Glanz und Elend von zwei Jahrhunderten mitteleuropäischer Geschichte zu beschreiben. Stern, dessen Eltern und Großeltern die bis 1945 Friedrich-Wilhelms-Universität genannte Hochschule absolviert hatten, erinnerte an ihre Weltoffenheit ebenso wie an die überdurchschnittlichen Wahlerfolge der Nazis in Schlesien.
Stern schlug den Bogen von 1848, als einer seiner Vorfahren im preußischen Breslau wegen liberaler und propolnischer Gesinnung arretiert wurde, zum Epochenjahr 1989, „dem strahlendsten Augenblick in Europas finsterstem Jahrhundert“. Er sprach von Mazzinis Traum eines „liberalen Nationalismus“ und von der bevorstehenden Vereinigung Europas: „Ein großes Glück für alle. Nie zuvor hat dieses blutgetränkte Land eine so sichere Aussicht auf Frieden gehabt.“ Es sind wohl nur die alten Emigranten, die zu dieser Emphase fähig sind.
Stern sprach in verblüffendem Gleichklang mit dem Publizisten Jan Nowak-Jezioranski. Der legendäre „Kurier aus Warschau“ zur Zeit des Weltkriegs ist nach einem halben Jahrhundert in alter Frische soeben aus den USA nach Polen übergesiedelt. Er würdigte die schlesische Metropole mit ihrer jungen Bevölkerung - jeder vierte ist hier unter 18 - als „unsere Eintrittskarte in die Europäische Union“.
Eine weitere Gruppe von „Emigranten“ war gekommen: die vertriebenen Deutschen. Als der Hamburger Mediziner Norbert Heisig vor zwei Jahren mit Hilfe des Gelehrtenkalenders 300 in Breslau geborene deutsche Professoren anschrieb, traten 160 sofort der „Deutsch-Polnischen Gesellschaft der Universität Wrocław (Breslau)“ bei. Eine Hundertschaft war angereist in die Stadt an der Oder, in der Österreichs Glanz und Preußens Gloria in Polens Gegenwart aufgehoben sind.
Wen hat diese Stadt nicht alles hervorgebracht! 13 Nobelpreisträger haben hier gelebt oder gelehrt; Ihre Marmorbüsten stehen neuerdings, von polnischen Bürgern gestiftet, im gotischen Rathaus, ebenso die Ferdinand Lassalles und (Rücken an Rücken dazu) der heiligen Edith Stein. Sie stehen auf Säulen aus gelbem schlesischem Sandstein, wie er auch am Brandenburger Tor zu bewundern ist. Eine Ecke weiter, vor der Elisabethkirche, das neue Denkmal für den hier geborenen Dietrich Bonhoeffer: Eine kniende Figur, ein Torso, doch nur mit Hals und Armansätzen, mithin ein Kreuz - Erinnerung an einen großen Theologen und Widerstandskämpfer.
Johannes Rau ließ es sich nicht nehmen, seinen Kollegen nach dem Niederlegen einer Handvoll Rosen über Bonhoeffer aufzuklären. Doch alsbald musste Kwasniewski in der Menschentraube selbst Brüderlichkeit beweisen: Hungerstreikende Krankenschwestern, die seit zwei Monaten kein Gehalt mehr bekommen haben, kämpften sich zum Präsidenten vor und verpflichteten ihn, sich um ihre Sorgen zu kümmern.
Am Rande erfuhr Rau von der alles überwölbenden Hoffnung der Breslauer: Die Stadt bewirbt sich um die Austragung der Expo im Jahre 2010. Am 3. Dezember wird das zuständige internationale Komitee darüber abstimmen. „Wir sind nicht chancenlos“, sagt der 30-Jährige Expo-Beauftragte Pawel Moras, „aber wir haben starke Konkurrenten.“ Moskau und Shanghai, fürchtet der hohe Diplomat Andrzej Byrt, versuchen mit bis zu 100 Millionen Dollar, den Entwicklungsländern ihre Expo-Pavillons zu subventionieren - und damit in der Wahl des Ortes ihre Stimmen zu gewinnen. „Das kann sich Polen nicht leisten“, so Byrt.
Breslau setzt auf sein Konzept. „Wir wollen eine Erneuerung der Expo-Idee, die wegführen muss von der stark technisch-industriell geprägten Ausstellung der Vergangenheit“, sagt Moras. Der Schwerpunkt müsse auf einer Präsentation der Kultur und daneben auf Wissenschaft und Medien liegen; der Schwerpunkt Kultur werde es auch weniger entwickelten Nationen ermöglichen, sich gleichberechtigt zu präsentieren. Zugleich bietet Breslau eine sinnvolle stadtplanerische Einbettung des Expo-Geländes, das als „zweites Zentrum“ westlich der Altstadt Leben entfalten soll, und setzt auf preisgünstige Unterkünfte. Diese sollen es den Gästen aus ärmeren Ländern erleichtern, die Expo - und im Paket auch Prag, Dresden oder Krakau - zu besuchen.
In einer hinreißenden Videosimulation, in der Fernsehsprecher von der Expo 2010 berichten, wird selbst der Papst als Kronzeuge angerufen - mit seinem Ausspruch „Polen hat überlebt Dank seiner Kultur.“ Wie Sevilla sechs Jahre nach dem EU-Beitritt eine hervorragende Expo geboten habe, werde das auch Breslau gelingen. Dafür muss man gar nicht den Heiligen Vater bemühen. Ein hoher Toyota-Vertreter sagte auf die Frage, warum sein Konzern sich soeben für Breslau als Standort eines neuen Motorenwerks entschieden hat: „Das ist die einzige Stadt in Polen, die Marketing betreibt.“
(Gerhard Gnauck arbeitet als Korrespondent für DIE WELT in Warschau. Der Artikel ist in der WELT vom 18.11.2002 erschienen.)