Vera Schneider
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Das umfangreiche eigene Werk des Schriftstellers und Publizisten Max Brod – damals weitaus öffentlichwirksamer als das seines scheuen Freundes Franz Kafka – drohte lange im Schatten von Brods Tätigkeit als Kafkas Herausgeber zu verschwinden. Doch was sein journalistisches Schaffen und sein gesellschaftliches Engagement betrifft, hat sich nun eine Lücke geschlossen.

Spitze Zungen behaupten zuweilen, der Prager deutsche Autor Max Brod sei eher für seine Unterlassungen als für seine Taten berühmt geworden. Und wirklich zählt die Weigerung Brods, den letzten Willen seines Freundes Franz Kafka zu erfüllen und nach dessen Tod seinen Nachlass zu vernichten, wohl zu den folgenreichsten Fällen postumen Ungehorsams in der Literaturgeschichte. Das umfangreiche eigene Werk des Schriftstellers und Publizisten Max Brod – damals weitaus öffentlichwirksamer als das seines scheuen Freundes – drohte lange im Schatten seiner Tätigkeit als Kafkas Herausgeber zu verschwinden. Doch was sein journalistisches Schaffen und sein gesellschaftliches Engagement betrifft, hat sich nun eine Lücke geschlossen: Die Dissertation des tschechischen Germanisten Pavel Doležal widmet mehr als die Hälfte ihres Umfangs dem Publizisten Max Brod.

Eingebunden wird die Würdigung Brods in den historischen Kontext der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Der Fokus liegt dabei auf dem deutsch-tschechischen Verhältnis im neuen Staatsgebilde, das – so die Ausgangsthese Doležals – von der politischen Utopie einer »zweiten Schweiz« geprägt wurde. Die Arbeit an der Realisierung dieser Utopie ist für Doležal die kulturpolitische Leistung einiger weniger Personen und Institutionen. Davon stellt er drei jeweils auf ihrem Gebiet führende Kräfte und ihr Zusammenspiel in den Mittelpunkt seiner Betrachtung: die deutschsprachige Zeitung Prager Tagblatt, den Präsidenten Tomáš G. Masaryk und Max Brod in seiner Rolle als Kulturredakteur. Entstanden ist dabei eine Arbeit, die den Horizont der klassischen Philologie im Sinne einer interdisziplinären Orientierung erweitert und am Beispiel des Nationalitätendiskurses den Funktionsübergang zwischen Dichtung, Publizistik und Politik nachweist. Dabei legt der Autor großen Wert darauf, der positiven Ansätze in dieser intensiven Phase des deutsch-tschechischen Zusammenlebens zu gedenken – eine Erinnerung, die im historischen Rückblick nur zu oft vom Wissen um das Scheitern der Utopie überlagert wird.

Der erste Teil der Publikation zeigt das seit 1875 erscheinende liberaldemokratische Prager Tagblatt in seinen Bemühungen um die deutsch-tschechische Verständigung. Gleichzeitig wird – im Spiegel der journalistischen Aneignung – die wechselvolle Geschichte der Zwischenkriegszeit lebendig. Nach der Gründung der ČSR 1918 gewann der »übernationale Geist« des Blattes eine auch jenseits der Prager Stadtgrenzen spürbare Ausstrahlung. Bald avancierte es zur europaweit meistgelesenen Prager Tageszeitung. Besonderes verdient machte sich das Blatt in den 1920er Jahren um den »Deutschen Aktivismus«, indem es ein Forum für die öffentliche Debatte zwischen der tschechischen Regierung und denjenigen deutschen Parteien bot, die sich für eine konstruktive und gleichberechtigte Mitwirkung der Deutschen im neuen Staatswesen aussprachen. Der Wahlsieg der Aktivisten 1925 ebnete schließlich den Weg für die Konstituierung der deutsch-tschechischen Regierung 1926; das Prager Tagblatt begleitete die Aktivitäten dieser Regierung loyal, ohne jedoch die Schwierigkeiten etwa auf dem Gebiet der Sprachenverordnung oder des Schulwesens zu tabuisieren. Auf den 1935er Wahlsieg der nationalsozialistischen Henleinpartei im Gefolge der Wirtschaftkrise reagierte das Prager Tagblatt mit einer gezielten Unterstützung der jungaktivistischen Bewegung und setzte sich für eine Zusammenarbeit der nicht nationalsozialistischen Parteien ein. Folgerichtig geriet die Zeitung nach dem Münchner Abkommen in Schwierigkeiten. Am 15. März 1939, dem Tag der deutschen Besetzung von Böhmen und Mähren, blieben schließlich alle jüdischen Redakteure der Redaktion fern. Keinen Monat später wurde in den Räumen des Prager Tagblatts die nationalsozialistische Zeitung Der neue Tag produziert.

Doležal zeichnet diese Entwicklung nicht nur anhand authentischen Textmaterials nach, er analysiert auch die zum Einsatz kommenden publizistischen Mittel, insbesondere die Strategien der Informationsauswahl. So stellt er heraus, in welchem Umfang das Prager Tagblatt auch tschechische Politiker und Pressestimmen zu Wort kommen ließ – eine Gepflogenheit, die er als essentiellen Beitrag zur gegenseitigen Annäherung sieht.

Aufgrund der Fülle von Artikeln über Tomáš Garrigue Masaryk räumt Doležal der Rezeption des ersten tschechoslowakischen Präsidenten ein eigenes Kapitel ein. Das Prager Tagblatt sah ihn nicht nur als Vaterfigur für die Tschechen, sondern als Garant der Völkerverständigung schlechthin. In seiner Berichterstattung honorierte es die Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit der Bemühung Masaryks, die Deutschen aus Böhmen und Mähren in die Ausgestaltung des neuen Staatswesens einzubinden. Welches Wohlwollen die Zeitung dem Präsidenten entgegenbrachte, belegt Doležal mit Zitaten aus Artikeln über öffentliche Auftritte und persönliche Jubiläen, anhand publizistischer Rituale wie dem regelmäßigen Abdruck der Neujahrsbotschaft, aber auch durch die Herausarbeitung von journalistischen Grundhaltungen. So hatte Masaryk in seiner Antrittsrede vor der Nationalversammlung – wohl in der Euphorie des Anfangs – die auf dem Gebiet der ČSR ansässigen Deutschen als Nachkommen von »Immigranten und Kolonisten« bezeichnet. Im Gegensatz etwa zur deutschnational orientierten Konkurrenz Bohemia maß das Prager Tagblatt dieser umstrittenen Sentenz jedoch keinen dogmatischen Wert bei und ließ sich nicht in ihrem Bemühen irritieren, den Präsidenten an seinen Taten zu messen. Masaryk, der großen Respekt für die Journalistik als »Kritik der Gegenwart« hegte, bedachte das Blatt im Gegenzug wiederholt mit öffentlichem Lob. Dennoch – so räumt Doležal in einem Resümee ein – stießen die gemeinsamen Bemühungen des Präsidenten und des Prager Tagblatts auf Grenzen: Nur die Deutschen konnten gewonnen werden, die das demokratische Prinzip des neuen Staates akzeptierten – und einen Nationenbegriff, der sich nicht auf die »Stammesangehörigkeit«, sondern auf die politische Selbstbestimmung aller Bürger beruft.

Der dritte Teil der Arbeit befasst sich mit dem publizistischen Wirken Max Brods als Kulturredakteur des Prager Tagblatts von 1924 bis 1939. Angesichts seines Umfangs – etwa 1500 Artikel aller journalistischen Genres – und seiner gesellschaftlichen Wirkung ist dies ein bedeutender Teil des Brodschen Lebenswerks. Den Akzent bei der Auswahl der betrachteten Artikel liegt auf dem Brückenschlag zwischen der deutschsprachigen und der tschechischsprachigen Literatur-, Musik- und Theaterszene – sowohl innerhalb Prags als auch in Wien und Berlin. Doležal zeigt Brod als einen von selbstloser »Liebe zum Meisterhaften« beseelten Förderer, Ermutiger und Entdecker, der nicht nach Sprache, religiösem Bekenntnis oder Nation, sondern nach künstlerischer Qualität fragte. Eine Haltung, die ein gutes Maß an Renitenz gegen den Zeitgeist erforderte und Brod Anfeindungen aus beiden nationalen Lagern eintrug.

Der Rolle eines Vermittlers zwischen den miteinander konkurrierenden Kulturen wurde Brod dabei nicht nur als Literaturkritiker, als Theaterrezensent, Musikredakteur und Verfasser gesellschaftspolitischer Betrachtungen gerecht. Doležal würdigt ebenso seine Verdienste um die Übersetzung und Dramatisierung tschechischer Texte. Prominentestes Beispiel dürften hier die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk von Jaroslav Hašek sein: Kaum hatte Brod den von der offiziellen tschechischen Literaturkritik geschmähten Fortsetzungsroman entdeckt, begann er – gemeinsam mit Hans Reimann – die Arbeit an einer deutschen Bühnenfassung. Die Premiere an der Berliner Piscator-Bühne legte den Grundstein für den Einzug des Hašekschen Schelmenromans in die Weltliteratur. Ein ähnlich gutes Gespür bewies Brod bei seinem Einsatz für den mährischen Komponisten Leoš Janáček, dessen Bedeutung für die moderne Musik auch von vielen seiner tschechischen Zeitgenossen lange nicht erkannt wurde. Diese Sicherheit im künstlerischen Urteil, gepaart mit Fleiß und Eigensinn, machen aus der Zusammenschau von Brods Rezensionen ein facettenreiches Panorama der Kulturlandschaft im Prag der Zwischenkriegszeit.

Pavel Doležals Dissertation ist im renommierten Wissenschaftsverlag Peter Lang erschienen, und die Fachwelt wird von der soliden Erschließung und plausiblen Präsentation einer beeindruckenden Materialfülle gewiss profitieren. Die Strukturierung des Textes durch eine detaillierte Gliederung macht das Buch zudem auch praktikabel für Eilige, die vielleicht nur Teilaspekte nachschlagen möchten. Doch darüber hinaus liegt eine besondere Stärke der Publikation in ihrem enzyklopädischen Charakter. Mit didaktischer Sorgfalt stellt der Autor wesentliche Hintergrundinformationen bereit, die eine Annäherung an die vielschichtige Materie erleichtern. Das beginnt bei einem Abriss zur Historiografie des deutsch-tschechischen Verhältnisses und reicht über die Geschichte des Prager Zeitungswesens und biografische Porträts der von Max Brod rezensierten Künstler bis hin zu einem Rundgang durch die zeitgenössische Prager Theater mit ihren wichtigsten Inszenierungen. Daher sei das Buch auch denen empfohlen, die einen ersten Zugang zur Geschichte der deutsch-tschechischen Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert suchen.