Kristallisationspunkt deutsch-russischer Beziehungen: Das deutsche Sankt Petersburg zwischen gestern und heute
Jan Kixmüller

Potsdamer Neueste Nachrichten, 18.10.2003

Sitzen Russen und Deutsche gemeinsam zu Tisch, ist es nicht weit hin, bis sie sich ihrer Nähe zueinander bewusst werden. Doch ebenso schnell wie man diese Verwandtschaft trunken besungen hat, kann sich auch der dunkle Schatten der Trennung über die Tafel legen. Der russische Autor Andrej Bitow erinnert sich in einer Anthologie an sein erstes Abendessen mit seinen deutschen Verlegern. »Sie gefallen mir. Sind zuvorkommend, lebhaft, großzügig. Gar nicht wie Deutsche. So also sind sie die Deutschen… Ich möchte ihnen eine Freude machen. Ich denke mir einen subtilen treffenden Trinkspruch auf ihre Heimat aus… Auf Deutschland! sage ich, und auf einmal liegt ein gespanntes, lastendes Schweigen über der Tafel.«
Treffender könnte man die Ambivalenz im Verhältnis von Russen und Deutschen kaum wiedergeben. Kaminers Russendisko, Schröder bei Putin und eine überbuchte Russland-Buchmesse – die Faszination der Deutschen an Russland hat auch viel mit dem undeutlichen Charakter dieses bisweilen anziehend-abgründigen Verhältnisses zu tun, das sich aus den Verwerfungen der Geschichte speist. Und wenn das Deutsche Kulturforum östliches Europa in seinem vierten kulturpolitischen Dialog Potsdamer Forum danach fragt, ob St. Petersburg mit seiner stark von Deutschen geprägten Geschichte auch heute noch Russlands Fenster nach Europa ist, trifft es ins Zentrum dieser Zwiespältigkeit.
St. Petersburg mit seinem deutschen Namen, von Peter dem Großen gegründet, der die Deutschen neben Holländern und Schweizern als Fachleute, Handwerker und Feldherren ins Land geholt hatte; die Stadt, die auf eigenen Wunsch nach dem Ende der Sowjetunion ihren deutschen Namen wieder annahm, zeigt wie keine andere russische Stadt die beiden unterschiedlichen Seiten des deutsch-russischen Verhältnisses. Denn nicht nur das Verbindende und Positive zeigt sich, wenn das Kulturforum nach deutschen Spuren sucht, sondern auch die tragische Seite, das Leid und Elend der fast 900 Tage dauernden Blockade durch die deutsche Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.
Und spricht man vom deutschen St. Petersburg, in dem zuweilen acht Prozent – manche sprechen sogar von bis zu 50 Prozent – Deutsche gelebt haben, so stößt man unweigerlich auch auf die Umbenennung der Stadt in der Sowjetunion in Petrograd und später Leningrad, die folgende lange Eiszeit, auf die Russifizierung der Deutschen im 19. Jahrhundert, die antideutschen Stimmung nach 1914 und schließlich auf die Oktoberrevolution, die manch ein Historiker auch als einen Aufstand gegen die Deutschen betrachtet.
Von den Folgen der Russifizierung konnte in der Diskussionsrunde der russische Germanist und Präsident des St. Petersburger PEN-Clubs Dr. Konstantin Asadowski aus der eigene Biografie heraus berichten. Deutsch hat er von seiner deutschstämmigen Mutter gelernt, deren Muttersprache allerdings Russisch war. So groß aber war ihr Wille, dem Sohn die deutsche Kultur mitzugeben, dass sie dem im Jahr des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion geborenen Asadowski trotz des brutalen Vorgehens der Deutschen deren Sprache beibrachte. Für das friedliche Miteinander der beiden Völker weiß der Germanist heute Puschkin zu zitieren, der in seinen Erzählungen vom freundschaftlichen Wesen der Deutschen schreibt. Doch Asadowski ist sich auch klar, dass das »bittere Kapitel der Vernichtung der deutschen Kultur« in der Sowjetunion von der Geschichtsschreibung erst noch geschrieben werden muss.
Und heute? Es sind wieder Deutsche in der Stadt. Andere Deutsche als damals. Ihre Anwesenheit wird mit anderen Augen betrachtet. Margarete von der Borch betreut ein Straßenkinder-Projekt in St. Petersburg. Am Anfang war es nicht leicht für sie, Anerkennung zu finden. Zu schnell landete sie in den Augen der Russen in der Kategorie der Erlebnishungrigen Sozialromantiker. Mittlerweile wird ihr Engagement geschätzt. Die Zivildienstleistenden, die aus Deutschland zur Arbeit in das Kinderheim kommen, meinen oft zu wissen, wie man die Arbeit besser macht. Eine typisch deutsche Haltung, mit der man sich derzeit in Russland nicht unbedingt beliebt macht. Diese Arroganz kennt auch Dr. Stephen Stein, der in St. Petersburg die Außenstelle der Delegation der Deutschen Wirtschaft leitet. Er hält es mit einem russischen Sprichwort: »Man soll nicht mit seinen eigenen Gebeten in ein fremdes Kloster gehen.« An die große Ära der Deutschen in St. Petersburg knüpfen die »Neuen Deutschen«, wie sie heute in der Stadt genannt werden, allerdings nicht an. Sie suchen kaum Kontakt zueinander, es habe sich keine »Deutsche Community« gebildet, wie Margarete von der Borch sagt. Das deutsche St. Petersburg mit seinen eigenen Geschäften, Restaurants und Clubs bleibt ein versunkenes Stück europäische Zivilisation. Was nicht heißt, dass es verloren ist. Die Bande der Geschichte, so schreibt Bitow, »sie sind nicht schwächer als die der Verwandschaft«.
Heute geht es vielmehr darum, dass, wie Stephan Stein betont, die deutsche Seite die wirtschaftliche Bedeutung des Ostseeraums mit der Hafenstadt St. Petersburg erkennt. Drei neue Häfen entstehen in der Region, und der Hamburger Hafen verzeichnet für den Ostseeraum Zuwachsraten von 20 Prozent und mehr. Geradezu widersinnig erscheint es da dem ehemaligen Generalkonsul in St. Petersburg, Dr. Dieter Boden, dass die Zahl der Slawistik-Lehrstühle derzeit in Deutschland drastisch gesenkt wird. St. Petersburg sieht er in Zukunft als Kristallisationspunkt der deutsch-russischen Beziehungen. Und die Stadt bewegt sich. Konstantin Asadowski fühlt derzeit ein Wendepunkt in der Stadt, ein Aufbrechen nach langer Starre. Die Orientierung nach Westen sei der Stadt schon in die Wiege gelegt, sah Peter der Große sie doch als Fenster zum Westen, wodurch er ganz Russland reformieren wollte. Heute müsse man allerdings darauf achten, dass durch das Fenster nicht nur Luft heraus-, sondern auch herein gelassen wird, merkte Stephan Stein schließlich an.


Das Kaliningrader Klaviertrio spielt auf Einladung des Kulturforums Königsberger Komponisten: 25. Oktober, 19 Uhr, Curt-Sachs-Saal des Staatlichen Instituts für Musikforschung, Tiergartenstraße. 1, 10785 Berlin.