Das Potsdamer Kulturforum östliches Europa hat in Szczecin eine Ausstellung zur Alltäglichkeit der Geschichte eröffnet
Potsdamer Neueste Nachrichten, 08.07.2005
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Von Jan Kixmüller

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Potsdamer Neuesten Nachrichten.

Die Schaffnerin ist überrascht. »Sie wollen wirklich nicht nach Usedom«, fragt sie die kleine Reisegruppe aus Potsdam. Nein, die Delegation des Deutschen Kulturforums östliches Europa ist sich sicher, man will nach Stettin. Hier im mecklenburgischen Tantow wird der Zug geteilt, draußen steht ein Pferd auf der Weide, Grün soweit das Auge reicht, am Horizont eine Backsteinkirche. Auf dem Nachbargleis wird Holz verladen, sonst weist kaum etwas auf die nahe deutsch-polnische Grenze hin. Der Zug ist fast leer. Hinter der Grenze in Szczecin – dem ehemaligen Stettin – dann plötzlich Neubaugebiete, kleine, gut bewachte Gettos für Neureiche, ein riesiger Makro-Markt, hier beginnt eine Großstadt, von der bei uns kaum jemand etwas weiß. Über 400.000 Einwohner, die einstige Metropole der Region Westpommern. Eine Ausstellung zur Geschichte der Stadt wollen die Potsdamer eröffnen, das Kulturforum, das sich dem deutschen Kulturerbe in Osteuropa verschrieben hat, ist an der Ausstellung zur Alltäglichkeit der Geschichte im Nationalmuseum Szczecin beteiligt. Am Bahnhof erwartet die Gruppe der Vizedirektor des Museums Rafał Makała. Es ist heiß, hier brennt die Sonne vom Himmel, während es in Potsdam am morgen noch nieselte. »Sie sehen, wir sind nun EU-Mitglied, das wirkt«, freut sich der Historiker des Museums.

Die Ausstellung ist ein erstes gemeinsames, deutsch-polnisches Projekt in der Stadt, die bis 1945 deutsch war. Was in anderen polnischen Städten mit deutscher Vergangenheit, etwa Breslau mittlerweile normal ist, ist hier noch Neuland: sich auf eine gemeinsame Geschichte zu bekennen, das Unrecht des Krieges auf beiden Seiten anzuerkennen, die deutsche Geschichte der Stadt auch für die heute hier lebenden Polen zu ihrer Heimatgeschichte zu machen. Kein einfaches Terrain, vor dem Hintergrund der so genannten »Preußischen Treuhand« etwa, die den vertriebenen Deutschen ihr einstiges Land über EU-Recht wieder geben will. Davor hat man Angst in Polen. Solange die Rechtslage nicht eindeutig geklärt ist, reicht auch kein Kanzlerwort, dass Deutschland keine Ansprüche mehr hege.

Das Schloss der Pommern-Herzöge war nach dem Krieg wieder aufgebaut worden.

Um so überraschender, wie stark sich dann doch gerade auch die junge Generation einer gemeinsamen Geschichte öffnet. Zur Ausstellungseröffnung ist das Museum an der Oder fast überfüllt, und zwar mittags um 12 an einem Werktag. Viele, auch junge Polen sind gekommen. Der Bus mit Heimwehtouristen aus Sachsen, der vor dem Museum gehalten hatte, zeigt hingegen kein Interesse an der Ausstellung. Und wenn Hanna Nogossek, Direktorin des Potsdamer Kulturforums betont, dass es in der Ausstellung auch um die Geschichte der Deutschen geht, bekommt sie ebenso Applaus, wie Museumsdirektor Lech Karwowski, wenn er sagt, dass nicht die Polen diese Grenzen 1945 wollten, sondern »hier herein gesetzt« wurden. Ausdrücklich begrüßt Karwowski auch den ersten in Szczecin geborenen Polen, der 60 Jahre nach den Ereignissen anwesend ist.

Karwowskis Kollege Kazimierz Wóycicki vom Institut des Nationalen Gedenkens, der polnischen Gauck-Behörde, wird später noch sagen, dass gerade auch die Geschichte der polnischen Vertreibung, der zumeist ungewollten Ansiedlung von Menschen aus Zentral- und Ostpolen in den ehemals deutschen Gebieten, bislang kaum erforscht ist. Ein Zentrum der Vertreibung, so wie es derzeit in Berlin geplant ist, lehnt er allerdings entschieden ab. Die Polen befürchten, dass sich die Deutschen hier als Opfer des Krieges darstellen könnten. Eine Geschichtsklitterung, die das Verhältnis der beiden Nachbarländer arg belasten würde.

Erst nach 1989 konnte das jahrzehntelang tabuisierte Thema Vertreibung in Polen offen ausgesprochen werden. Stettin war nach dem Einmarsch der Sowjetischen Armee 1945 zunächst fast menschenleer, ein Großteil der 380.000 Deutschen war schon zuvor nach Westen geflohen. Bis zum Sommer 1945 kamen zwar bis zu 70.000 von ihnen zurück, aber mit Beschluss vom 4. Juli 1945 wurde Stettin an Polen übergeben. Den verbliebenen Deutschen wurde »ermöglicht« nach Greifswald auszureisen, eine Minderheit blieb noch bis in die 60er Jahre. Inzwischen wurden Polen angesiedelt, es kam auch große Zahl von Juden, die den Holocaust überlebt hatten. Der Großteil von ihnen emigrierte allerdings weiter in die USA oder verließ Polen nach antisemitischen Ausschreitungen im Jahre 1968.

Was aus Szczecin werden sollte, blieb lange Zeit im Ungewissen. Erst der Besuch des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Nikita Chruschtschow, in den 60er Jahren beendete Spekulationen darüber, dass das alte Stettin doch noch an die DDR übergeben werden sollte. Heute ist die Lage von Szczecin völkerrechtlich eindeutig geklärt. Doch welche Rolle die Stadt in der Region spielen wird, ist noch offen. Szczecin hat heute zahlreiche Hochschulen, bald zwei Universitäten, Werften und den größten polnischen Seehafen. Die Randregionen von Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern werden aus deutscher Sicht immer wieder als abgekoppelte Sackgassen wahr genommen. In der Tat aber sind sie nun zum Umland der aufstrebenden Metropole Szczecin in einem gemeinsamen Europa geworden.

Ein Beispiel dafür ist der kleinen Ort Penkun kurz vor der Grenze auf deutscher Seite. Hier lebt man relativ sicher, in sehr schöner Landschaft und mit besserer Schulausbildung als in Polen. Und die Immobilien sind im Vergleich zu Polen sehr günstig. Immer mehr »Stettiner« ziehen nun hier her, ihren Arbeitsplatz in der Stadt haben sie über die Autobahn in wenigen Minuten erreicht. Verkehrte Welt: In Polen hat man Angst, dass die Deutschen das Land aufkaufen, hier aber läuft es gerade anders herum.

Aufschriften, die an die deutsche Geschichte Stettins erinnern, sind heute selten.

So sagt dann auch Hanna Nogossek vom Kulturforum, es sei Zeit anzuerkennen, dass die Hafenstadt Stettin ein zweites Hinterland bekommen hat, das deutsche Vorpommern. Für die Region vielleicht eine enorme Chance. Über die Präsentation der Alltagsgeschichte in der Ausstellung will man nun Gemeinsamkeiten zeigen. Nogossek hofft, dass auch aus Deutschland Besucher zu der Ausstellung kommen. »Wir sollten diese Region stärker im europäischen Kontext sehen«, ist ihr Wunsch. Den Einheimischen will man mit der Ausstellung größeres Wissen über ihre westpommersche Heimat vermitteln, Lokalpatriotismus unterstützten und ein Bewusstsein für gemeinsamen Wurzeln und die schwierige Vergangenheit schaffen. Im Mittelpunkt der Ausstellung steht dann auch die Zeit, in der die Polen diese Stadt wieder aufgebaut haben. Aber auch nationale Ereignisse, wie der blutig niedergeschlagene Arbeiteraufstand 1970, der zum Vorläufer der Solidarność-Bewegung wurde.

Dass die Stadt vor ihren nunmehr 60 polnischen Jahren, auch eine deutsche Stadt war, eine Hansestadt, zeitweise zu Schweden gehörte und preußische Festung wurde, zeigt sich heute noch an vielen Ecken. Doch die Stadt muss man sich erarbeiten. Durch alliierte Bomben wurde sie im Krieg stark zerstört, die Kulturgüter liegen nun zerstreut zwischen Plattenbauten und breiten Straßen. Die eigentliche Altstadt um das alte Rathaus an der Oder wird gerade wieder aufgebaut, zum Teil sogar mit originaler Stuckornamentik an den Bürgerhäusern, auf ehemaligem Grundriss.

Der Wiederaufbau originaler Gebäude scheint hier – anders als etwa in Potsdam – kaum umstritten, auch das majestätische Schloss der Pommern-Herzöge war nach dem Krieg wieder originalgetreu rekonstruiert worden. Meist sind es aber nur noch alte Straßen mit Kopfsteinpflaster und der Spurbreite von Kutschen, die an das alte Stettin erinnern. An den Gebäuden, die überlebt haben oder mittlerweile wieder errichtet sind, informieren Tafeln auf Polnisch, Deutsch und Englisch über die Historie. In einem rekonstruieren Bürgerhaus am Alten Markt lädt das La passion du vin ein. Hier zumindest ist Stettin schon in Europa angekommen.

An der Jakobikirche treffen wir einen Pfarrer. Als er hört, dass wir Deutsch sprechen, zeigt er uns am alten Eingangsportal der ehemals protestantischen und heute katholischen Kirche eine Bildnis des Heiligen Otto zu Bamberg. Das Signal ist klar: wir sind dem Geistlichen willkommen. Die stark im Krieg stark zerstörte Kirche war erst in den 70er Jahren wieder aufgebaut worden. Auf der Rückfahrt dann ist eine Gruppe von Teenagern aus Berlin im Zug, sie singen ausgelassen Lieder. Polen fahren kaum welche mit. Nach Penkun geht es schließlich über die Autobahn.

 


 

Die Ausstellung in Szczecin ist bis zum 30. Juni 2007 geöffnet, Muzeum Narodowe w Szczecinie, ul. Wały Chrobrego 3, PL–70-56. Durchgehende Bahnverbindung täglich von Potsdam nach Szczecin ab 7.28 Uhr, zurück 19.42 Uhr.

Heimliche Metropole
Der Originalartikel in der Online-Ausgabe der PNN

Die Alltäglichkeit der Geschichte
Stettin und das polnische Westpommern 1945–2005