Potsdamer Neueste Nachrichten 27.07.2004
Serie: Neue Zeiten im Osten
Heute: LitauenSeit Mai sind acht Länder des östlichen Europa Mitglieder der EU. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa pflegt enge Kontakte in die Beitrittsländer. Die PNN wollten von den Partnern wissen, was sie von der neuen Zeit erwarten.
Ricardas Zulcas ist Leiter der Abteilung für Auslandsbeziehungen und Tourismus Stadtverwaltung der litauischen Stadt Klaipeda. Mit ihm sprach Jan Kixmüller.
Wird der EU-Beitritt Litauens Ihre Arbeit und Ihr Leben verändern?
Bereits vor dem Beitritt Litauens in die EU war im Land eine gehobene Stimmung zu spüren. Hoffnungen und Ängste versetzen nach wie vor die Menschen in eine euphorische Stimmung: Es sind idealisierte Vorstellungen von einem sicheren und prosperierenden Land, rosige Träume von einer Arbeitsstelle in einem anderen EU-Land mit höheren Löhnen oder es waren kleine merkantile Interessen, wie zum Beispiel billigen Zucker und Salz oder gar eine günstige Immobilien vor dem Beitritt Litauens in die EU kaufen zu können. Das bedeutet, dass jeder versucht, seine Lebensperspektive innerhalb der EU zu finden. Bereits jetzt trifft man in der Altstadt von Klaipeda oft auf Gruppen, vor allem Jugendliche, die einen alternativen Lebensstil leben. Auch in Klaipeda gibt es Punks, die in ihrer Lebensweise ihren »alteuropäischen« Altersgenossen folgen. Sie tragen zum bunten und vielfältigen Leben einer europäischen Stadt bei.
Wie europäisch ist Klaipeda heute?
Die Stadt Klaipeda ist als »europäischer Pionier« Litauens schon seit längerem in den Prozess der EU-Osterweiterung eingebunden. Die Stadt ist Preisträger des Europäischen Rates 2003 und blickt mit ihren intensiven internationalen Kontakten und den meisten EU-Projekten in Litauen dem EU-Beitritt recht gut vorbereitet und ruhig entgegen. Das städtische Konzept für langfristige Entwicklungen der kommenden zehn Jahre ist bereits in der Ausführungsphase und erfordert von der Verwaltung eine höhere Verantwortung. Ich persönlich erwarte neue Aufgaben und einen Zuwachs an Arbeit, hoffe aber, dass mir auch in Zukunft genügend Freizeit für Spaziergänge oder Fahrradausflüge am Strand der Ostsee bleibt.
Wie wird sich der Beitritt auf die Beziehungen zu Deutschland auswirken?
Die intensivsten Kontakte, die von der Stadt und der Region Klaipeda gepflegt werden, sind zu Deutschland und Skandinavien. Das ist ohne Zweifel historisch, geographisch und mental bedingt. Obwohl die Skandinavier sich als die größten Investoren in der Stadt fest etabliert haben, bilden die Deutschen mit 45 Prozent die größte Gruppe der Stadtbesucher. Die Tatsache, dass die Stadt Klaipeda nach dem Fall des Eisernen Vorhangs Städtepartnerschaften mit vier deutschen Städten – die Hansestädte Lübeck und Rostock sowie Mannheim und Leipzig – geschlossen hat, ist teilweise auch auf die Geschichte des Memellandes zurückzuführen. Das Interesse an der ehemals am weitesten östlich gelegenen Hafenstadt des Deutschen Reiches, Lobbyarbeit der ehemaligen Memelländer, Interesse an der wirtschaftlichen Zusammenarbeit und kulturelle Neugierde haben bei vielen Deutschen das Interesse geweckt, Klaipeda im Kontext des neugeborenen Baltikums kennen zu lernen.
Eine einseitige Zuneigung?
Nein, es besteht auch in Klaipeda ein Interesse am gesellschaftspolitischen und kulturellen Leben in Deutschland. So werden zum Beispiel zum sechsten Mal in Klaipeda die deutschsprachigen Kulturtage, die zeitgenössische Kultur aus Deutschland und dem deutschsprachigen Raum präsentieren, veranstaltet. In diesem Jahr werden auf dem traditionellen Meeresfest, das bereits vor 70 Jahren als eine litauische Initiative im deutschen Memel ins Leben gerufen wurde, Veranstaltungen stattfinden, bei denen unter anderem Udo Lindenberg auftreten wird. Im Jahr 2005 wird mit Unterstützung der Hansestadt Rostock die Baltic Sail Regatta der historischen Segelschiffe im Hafen von Klaipeda Station machen. Diese großen Projekte, entstanden in Zusammenarbeit mit deutschen Institutionen und Vereinen, sind vor allem das Ergebnis der zahlreichen über Jahre gewachsenen Kontakte zwischen den kleinen Klaipedaer Initiativgruppen und deutschen Partnereinrichtungen.
Welche Rolle spielt das deutsche Kulturerbe heute in Ihrem Land?
Das Gesicht der Stadt Memel/Klaipeda und des Memellandes hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg stark verändert. Wenn man jedoch an »Romai« oder »Zaliasis Slenis«, den neuen Siedlungen Klaipedas, die in den letzten Jahren entstanden sind, vorbeifährt und die vielen neuen Gebäude aus dunkelrotem Backstein oder die den alten Fachwerk nachempfundenen Neubauten sieht, versteht man die tiefe Verbundenheit der Einwohner Klaipedas mit dieser kulturellen Landschaft und das Bewusstsein für die historischen Gegebenheiten. Oder anders gesagt, es wird einem bewusst, wie schwierig und unmöglich es in der Sowjetzeit war, diese Verbundenheit zum Ausdruck zu bringen.
Wird diese Verbundenheit auch sichtbar?
Es ist ein schöner Anblick, sonnabends die Hochzeitsgesellschaften zu sehen, die am Denkmal des memelländischen Dichters Simon Dach vorbeigehen und Blumen zu Ehren der schönsten Gestalt seiner Gedichte, dem Ännchen von Tharau, niederlegen. Das bedeutet, dass die Klaipedaer die ehemals als fremd empfundenen kulturellen Zeugnisse der Deutschen nun als ihre eigenen betrachten; sie befreien sich von den ideologischen Stereotypen. Man kann nur hoffen, dass sich in Zukunft die multikulturelle Identität der Klaipedaer aufrechterhalten lässt und dass die Kulturlandschaften der Region und der Stadt die schöpferische Kraft der Einwohner inspirieren.
- Tiefe Verbundenheit
Das Originalinterview in der Online-Ausgabe der PNN