Die rumäniendeutsche Künstlerin Ilse Hehn vermittelt donauschwäbisches Erbe in Wort und Bild
Wolfgang Schlott
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Eine Geschichte der Donauschwäbischen Häuslichkeit, der Arbeit und der Feste, gestaltet mit farbigen Abbildungen von Gegenständen aller Art, eingebettet in literarische und ethnografische Texte von Banater Autorinnen und Autoren, ausgewählt und fotografiert von der Künstlerin und Lyrikerin Ilse Hehn, erweist sich als eine besondere Art der Sinngebung, wie Franz Heinz in seinem Geleitwort anmerkt. Kunstvoller Handarbeit, die im schwäbischen Haus über ihren Gebrauchswert hinaus »mit einem Hauch volkstümlicher Poesie und Moral« versehen sei, hafte »immer etwas zeitlos Humanes an, das uns heute mit ungeahnter Heftigkeit berührt.« Davon seien auch die vielen, oft unscheinbaren Dinge aus dem Alltag betroffen, die uns »in der Nachbetrachtung die Vergangenheit im vertrauten Umfeld wieder nahe bringen.« Was hier als einfühlsames Geleitwort ausformuliert ist, verdichtet sich in den einleitenden Reflexionen der Autorin über das Gedächtnis der Dinge gleichsam zu einer Anleitung bei der Bildbetrachtung und beim Lesen der begleitenden lyrischen und Sach-Texte: »Ich versuchte Leerstellen zu bebildern, die entstehen, wenn Raum und Dinge mitsamt ihrer Geschichte für immer zu verschwinden drohen und mit ihm Orte, die sich der Mensch als Erinnerungsnischen schafft.«

Nussknacker, Kochbuch, Kochlöffel, Handarbeit

Konstruktive Erinnerung in Verbindung mit künstlerischer Gestaltung – in dieser Intention umgesetzt heißt einen persönlichen und einen geschichtlichen Raum sich wieder anzueignen, der als Banater Lebensraum nach 1989 für viele Donauschwaben verloren ging. Und wie die Verbindung von Erinnerungsarbeit und Lebensgeschichten dazu beiträgt, den individuellen und kollektiven Gedächtnisspeicher mit Bildtexten wieder auffüllt, zeigen die beiden handlichen Bände auf eine anziehende Weise. Wo immer der Blick beim Aufschlagen einer Seite fällt, er wird entweder von den bunt-bizarren, manchmal auch spröd-praktischen Gegenständen gefesselt, oder er wandert von der Verszeile »Die Rose spricht, der Dorn sticht, vergiss mich nicht!« (Bd. 1, S. 43) hinüber zu einem Wandschoner, einer Handarbeit, die auf Linnen die Konturen eines Schlosses und einer üppig bestickten jungen Schönheit aufzeigt, die gerade in den Dornenstrauch greift. Doch nicht nur folkloristisch verfestigte Sinnsprüche dienen der Autorin zur Sinn gebenden Verdeutlichung von Gegenständen. Ein Gedicht von Nikolaus Lenau, ein aus dem Banat gebürtiger berühmter Dichter, dient der poetischen Verdichtung einer Fotografie, die eine Wiege samt Puppe und Bettzeug, mit einem Herzelstuhl davor, abbildet:

»Ein schlafendes Kind! o still! in diesen Zügen
könnt das Paradies zurückbeschwören;
es lächelt süß, als lauscht es Engelschören,
den Mund umsäuselt himmlisches Vergnügen.«
(Bd. 1, S. 51)

So könnte der Rezensent fortfahren mit immer neuen Aha-Erlebnissen, wenn es nicht auch viele Doppelseiten gäbe, auf denen sich grobes Hausgerät, bunt bemaltes Geschirr und Bettzeug mit »Paradekissen« häuft und den Betrachter gleichsam wehmütig an seine Kindheit in einem Banater Dorf erinnern oder mit staunenden Augen die reichhaltige Ausstattung eines donauschwäbischen Haushalts bewundern lässt. Butterfass und Nudelseier, Schneeschläger und Mörser, Keramikschüsseln und Waffeleisen reihen sich da aneinander, um plötzlich von einer Beschreibung eines Stubenfensters aus Balthasar Waitz' Erzählungen »Krähensommer« unterbrochen zu werden. Der 1950 geborene und im Banat aufgewachsene Schriftsteller hinterlässt mit seinen poetisch verdichteten Erzählfigurationen ganz besonders eindrucksvolle Erinnerungsbilder. So wenn Ilse Hehns Fotografie einer Schranktür mit einem dahinter auftauchenden Männerporträt neben einem Text abgedruckt ist, in dem der »schöne Anzug« seines Vaters zu Familienfeiern, zu Kirchgängen oder zur sonntäglichen Kartenpartie ausgeführt wird (Bd. 1, vgl. S. 36/37). Doch nicht nur hochdeutsche Schriftsprache fördert den Dialog zwischen den fotografierten Objekten und den ausgewählten Texten. Auch der donauschwäbische Lokaldialekt kommt häufig zum Einsatz, so bei der Abbildung eines Telefons (auf einem Radio stehend) aus den 20er Jahren und einem Schwank über die »Baure«, die nicht begreifen, wie ein Telefon funktioniert (Bd. 1, S. 183).

 

Unterröcke I

Im Band 2 ist der Blick zunächst auf eine Reihe von Fotografien gerichtet, die mit Tiefenschärfe und Hell-Dunkel-Kontrasten die Schatten von Weinreben erfassen, und die blaugraue, saftige Farbigkeit von Weintrauben vor schon verdorrten Blättern hervorheben. Sie dokumentieren auch die Seiten einer Schulfibel, bilden eine Schiefertafel mit Schwamm ab und belegen die reiche Sakralkunst am Beispiel von Wandkreuzen und Kruzifixen. Neben diesen kunstvoll gestalteten Figurationen fallen die Blumenornamente auf, die den Alltag und die Festtage ausschmücken. Wiederum begleitet von Ausschnitten aus Erzählungen und ethnologischen Darstellungen, wobei auch Fotocollagen das Wechselverhältnis von Bild und Text dynamisieren. Allerdings verlieren sich einige Abbildungen (Bd. 2, S.120 f.) in Details, die den Betrachter da und dort verwirren. Auch bei den Abbildungen der Musikinstrumente (Bassflügelhorn, Zither, Violine) wären stärkere Konturierungen wünschenswert gewesen. Sehr tiefenscharf sind hingegen die Abbildungen der Frontispize von Fach- und Schulbüchern und der Titelblätter der deutschsprachigen Provinzpresse, die in dichter Folge einen eindrucksvollen Nachweis der Buch- und Zeitungskultur im Banat der Vorkriegszeit liefern. Den Abschluss des Bandes bildet ein Collage aus Ansichtskarten und Familienfotos sowie ein verwischtes Foto, auf dem tanzende Paare einen Abschiedswalzer tanzen, begleitet von den lyrischen Impressionen aus der Feder von Horst Samson:

»Der Herbst ist kalt.
Und losgelassen
Fliegen die Blätter fremd
Durch die Gegend.
Was siehst du dort Draußen,
ruft sie im Koffer wühlend.
Blätter am Boden, ruf ich zurück,
Abgebrochene Äste und ein Wind
Der uns mit sich reißt.«
(Bd. S. 209).

Unterröcke II

In diesem zweiten Band, dessen Umschlag ein spannungsgeladenes Ensemble von weiß lasierten Porzellanvasen und – schalen sowie ein Blumengebinde ziert, kommt ganz besonders die Vielfalt von kunstvoll gestalteten Gebrauchsgegenständen neben den sorgfältig ausgewählten Texten zum Ausdruck. Unter den Prosatexten befindet sich auch ein Ausschnitt aus Herta Müllers frühem Erzählband Niederungen. Er beschreibt aus der Perspektive der Ich-Erzählerin die qualvolle Prozedur beim Anlegen des neunten Unterrocks, den ihr die Mutter – traditionsbewusst – überzieht, was so abläuft: »Der neunte Rock ist lichtgrau wie die Pflaumen am Morgen. Er schwimmt auf den steinernen Unterröcken. Ich spür nur seine heiße Schnur.« (Bd. 2, S. 141) Und beim Blick auf die Fotografie verspürt besonders die Betrachterin, wie mühevoll sich die Einhaltung der weiblichen Kleiderordnung im dörflichen Milieu noch in den 1950er Jahren gestaltete. Die Unterröcke hängen wie zusammengeschnürte Bündel im Kleiderschrank und drohen gleichsam mit Sanktionen, falls es jemand wagen sollte, die lang gehegte Ordnung zu zerstören. 

Mit solchen Querverbindungen zwischen Text und Bild liefert diese Publikation ein anschauliches Beispiel für eine Tiefenanalyse, die die ethnologisch reichhaltige Kultur des Banats aufspürt und sie exemplarisch, da und dort auch ornamental verdichtend, darbietet. Diese Fülle von fotografierten Gegenständen und Bildern, durch begleitende Texte erläutert und auch konterkariert, bietet seinen Betrachtern keinen rasch zu konsumierenden Einblick in eine Kulturlandschaft, die den meisten nur noch aus Rundgängen durch Museen bekannt ist. Die einfühlsam gestalteten Fotografien fordern ihre Betrachter vielmehr auf, einen Dialog mit Texten zu führen, die bildhaft geworden, die allmählich aus der Erinnerung schwindende Heimat zurückholt. Nicht als nostalgisches Versatzstück, das verloren gegangen ist, sondern als Aufforderung, mit der eigenen Geschichte ein andauerndes Gespräch zu führen. Ilse Hehn hat mit ihrer dynamisch aufgeladenen Bild-Text-Publikation eine konstruktive Grundlage für eine andere kulturgeschichtliche Betrachtung geliefert. Und die ist ästhetisch verlockend, nüchtern und zugleich ornamental gestaltet, künstlerisch überzeugend und mit anschaulichen Texten angereichert, dank auch der fachlichen Beratung in Museen und mancher Hinweise von Literaturwissenschaftlern.

Zum Autor: Prof. Dr. Wolfgang Schlott war bis 2006 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Osteuropa Bremen. Er ist Professor für Literatur und Kulturgeschichte Osteuropas an der Universität Bremen und seit 2006 Präsident des Exil-P.E.N. deutschsprachiger Länder.