Einführung zum Internationalen Colloquium »Ein Zentrum für Vertreibung?« vom 14. – 16.03.2003 in der Akademie Sankelmark
Die Diskussion über das Projekt eines Zentrums gegen Vertreibungen reicht bis in das Jahr 1999 zurück, als die Idee auf dem »Tag der Heimat« von Erika Steinbach, Präsidentin des Bundes der Vertriebenen (BdV), erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt wurde. Unterstützt durch die positive Resonanz, die das zunächst unter dem Arbeitstitel »Ein Haus für 15 Millionen« geplante Projekt fand, gründete der BdV am 6.9.2000 eine Stiftung »Zentrum gegen Vertreibungen« als Stiftung der deutschen Heimatvertriebenen. Ebenfalls im September 2000 sprach Gerhard Schröder als erster sozialdemokratischer Bundeskanzler auf dem »Tag der Heimat«, der zentralen jährlichen Veranstaltung des BdV – eine Tatsache, die allgemein als Hinweis auf schwindende Vorbehalte der Sozialdemokraten gegenüber den organisierten Vertriebenen gedeutet wurde.
Rückenwind erhielten die Befürworter des Projekts durch Günter Grass’ Novelle Im Krebsgang. Darin kritisierte der Nobelpreisträger das »Versäumnis« der Deutschen, sich mit Flucht und Vertreibung aus der Heimat jenseits von Oder und Neiße zu beschäftigen. Die im Februar 2002 erschienene Novelle erlebte innerhalb kürzester Zeit mehrere Auflagen und löste eine breite Diskussion in der Öffentlichkeit aus. Im »Spiegel« erschien eine mehrteilige Serie über die »Flucht der Deutschen«, ORB, ARD und ZDF strahlten ebenfalls mehrteilige Dokumentation über die Vertreibung der Deutschen und ihre Integration in der Nachkriegsgesellschaft aus.
Hinzu kam ebenfalls im Februar letzten Jahres kulminierende deutsch-tschechische Streit um die »Beneš-Dekrete«. Die bilaterale Auseinandersetzung gewann dadurch an Brisanz, dass mit dieser Frage der EU-Beitritt Tschechiens verknüpft wurde – ein Thema, das sich auf beiden Seiten des Böhmerwalds für innenpolitische Profilierung in Wahlkampfzeiten trefflich ge- oder besser missbrauchen ließ. Das Projekt »Zentrum gegen Vertreibungen« gewann derweil an Profil. Der SPD-Politiker Markus Meckel (vgl. »Rzeczpospolita« 07.03.2002) und kurz darauf die bekannten polnischen Publizisten Adam Krzemiński und Adam Michnik (vgl. Breslau, nicht Berlin. »Die Welt« 15.05.2002) forderten ein Zentrum gegen Vertreibungen in Breslau – einer Stadt, die wie kaum eine zweite den Heimatverlust von Polen und Deutschen zugleich verkörpert. Gegen ein wie auch immer geartetes Vertreibungszentrum sprach sich eine Gruppe von Politologen und Historikern aus Deutschland und Polen aus, unter ihnen die Direktorin des renommierten Posener West-Instituts, Anna Wolf-Powęska (vgl. Deutsche Unfähigkeit zum besonnenen Diskurs über die Geschichte. »Frankfurter Rundschau« 08.07.2002).
Im Mai 2002 debattierte der Bundestag über das Projekt. Zwar bestand im deutschen Parlament ein weitgehend parteiübergreifender Konsens für ein Zentrum gegen Vertreibungen; Unterschiede finden sich jedoch im Detail (vgl. http://www.bundestag.de/presse/hib/2002/2002_126/01.html). Der damalige Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin erklärte: »Eine aufgeklärte nationale Identität Deutschlands verlangt einen offenen Umgang mit dem Thema Vertreibung, auch der Vertreibung der Deutschen im Osten. Wir sollten den Dialog über die Einrichtung eines Zentrums gegen Vertreibungen auf europäischer Ebene führen – eingedenk der Tatsache, dass die früheren Siedlungsgebiete der Deutschen im Osten von einem reichen kulturellen Geflecht geprägt sind […]« (vgl. http://www.markusmeckel.de/doc/sonst/debatte_Vertreibung.doc). Während sich die rot-grüne Koalition für ein europäisch verankertes Zentrum aussprach, kritisierte sie zugleich die Anträge der CDU/CSU und der FDP als zu wenig offen für das Schicksal der Vertriebenen anderer Nationen zurück. Die europäische Einbindung des Projekts, so erklärte die Opposition, sie jedoch nicht strittig. Allerdings hob die FDP hervor, dass im Antrag der Regierungskoalition der Begriff des »Mahnmals« entfallen sei. Einigkeit bestand darin, vor einer Realisierung des Zentrums einen intensiven Dialog mit den Nachbarn im Osten zu führen (vgl. www.bundestag.de/aktuell/hib/2002_172/03.html).
Ein Beitrag zu diesem Dialog ist das internationale Colloquium, das die Academia Baltica vom 14. bis 16. März 2003 in Sankelmark veranstaltet hat. Ziel war es nicht, die Vertreibungen als solche zu thematisieren, wie es unlängst auf einer Tagung des Deutschen Polen-Instituts in Darmstadt geschehen ist (vgl. Peter Oliver Loew: Tagungsbericht: Ein Europäisches Zentrum gegen Vertreibungen. Historische Erfahrungen – Erinnerungspolitik – Zukunftskonzeptionen. Darmstadt 12/2002. Stefan Dietrich: Leichen im Geschichtskeller. »FAZ« 12.12.2002). Stattdessen kamen Befürworter und Gegner eines »Zentrums gegen Vertreibungen« aus Deutschland, Polen und Tschechien zu Wort. Gefragt wurde außerdem nach der wissenschaftlichen, literarischen und politischen Rezeption der Vertreibungen des 20. Jahrhunderts in Deutschland und seinen östlichen Nachbarländern. Und schließlich stellte sich die Frage nach möglichen Alternativen zu einem nationalen oder europäischen »Zentrum gegen Vertreibungen«: die Aufarbeitung von Heimatverlust durch Begegnungen vor Ort oder das Projekt lokaler Dokumentations- und Erinnerungsstätten der Vertreibung.