Plädoyer für die Errichtung einer Gedenkstätte für die Vertriebenen des Kontinents in Schlesien
Gerhard Gnauck
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Polnische Vertriebene aus Lida (heute Litauen) auf dem Weg nach Schlesien

Sind wir Vertriebene? Das Wort kam von außen zu uns, von Politikern, von Historikern, vom »Bund der Vertriebenen«. Meine deutsche Großmutter hat sich nie als Vertriebene bezeichnet. Allenfalls war von der »Flucht aus Breslau« die Rede, die über das Sudetenland führte und in Thüringen – vorerst – ihr Ende fand. Flüchtlinge sind wir: Nicht von Soldaten in Güterwaggons gepfercht und abgeschickt, sondern auf eigene Faust aufgebrochen, mit Kind und Kegel, noch ehe die Soldaten kamen.

Flüchtlinge. Aber auch das war in den siebziger und achtziger Jahren kein Thema. Allenfalls dann, wenn dem Enkel erklärt werden musste, warum die Nachbarn ein Haus geerbt hatten und wir nicht und was das für Konsequenzen hatte. Und wenn etwas erzählt wurde, dann eher von den Besuchen Hitlers und Kaiser Wilhelms in Breslau (für letzteren galt: »Wir standen Spalier und winkten.«) Na, einmal hat die Omi auch von der Flucht erzählt, aber nur kurz: Von der Evakuierung in ein schlesisches Dorf wegen der Bomben, dann, im Winter 1944/1945, vom Aufbruch zusammen mit den Bauern. Der Großvater war früh gefallen, Omi musste mit fünf Kindern alleine laufen, nur ihre alte Mutter war noch dabei, sie durfte auf einem Pferdewagen sitzen. Nächtlicher Halt in böhmischen Dörfern; Hoffnung auf Rückkehr nach Schlesien; Ankunft in Thüringen. Stunde Null.

Meine polnische Großmutter hat sich erst recht nicht als Vertriebene bezeichnet. Sie hatte in ihrer Heimat, der Ukraine, Ähnliches erlebt wie meine deutsche Großmutter in Schlesien. Auch dort kündigte das Auftauchen von Soldaten mit einem roten Stern an der Mütze an, dass sich im Leben einiges ändern werde. Die Szene, als die Rotarmisten ihre Mutter erschießen wollten und sie sich, selbst noch ein Kind, schreiend vor sie warf, hat sie offenbar auf Jahrzehnte zum Schweigen gebracht. Erst in den achtziger Jahren hat sie davon gesprochen, und auch dann nur, als sie in Westdeutschland zu Besuch war.

Lieber hat die Babcia, die polnische Großmutter, davon erzählt, wie Zar Nikolaus zu Besuch kam (»wir standen Spalier und winkten, und er fuhr mit der Hand über unsere Köpfe«). Dann kam die Revolution, der polnisch-sowjetische Krieg und eine neue Staatsgrenze, die auf unsere Familie leider keine Rücksicht nahm. Ein Jahr litt sie unter der Sowjetherrschaft, dann heuerte sie Schleuser an. Bei Nacht und Nebel brachte ein Pferdewagen die Familie über den Grenzfluß auf die polnische Seite. Nächtliche Suche nach dem nächsten Polizeiposten; immer noch Hoffnung auf Rückkehr; Ankunft in Warschau. Stunde Null.

Inzwischen haben wir die Heimatorte besucht. Breslau, heute Wrocław, erstmals mit dem VW Käfer in den sechziger Jahren. Eine schlimme Reise: Omi fand das Familiengrab nicht wieder, weil alle Grabsteine umgeworfen waren. Polen guckten finster und warfen dem Volkswagen Steine hinterher. An die Tür ihres Reihenhauses klopfte Omi nicht, nahm nur aus dem Vorgarten Erde mit und füllte sie in ein Säckchen. Heute liegt die schlesische Erde, wie sie es wünschte, mit ihr im Grab.

Die Besuche der übernächsten Generation verliefen ganz anders. Es kostete in den achtziger Jahren kaum noch Überwindung, in Breslau, der größten Stadt Europas, die im 20. Jahrhundert Opfer einer »ethnischen Säuberung« geworden war, an die Tür zu klopfen. Die polnischen Bewohner, Flüchtlinge auch sie, aus Polens Ostgebieten, kostete es keinen Schweißausbruch, uns hineinzulassen und alle Zimmer zu zeigen. Uns war klar gewesen: Vor uns haben Hunderttausende hier angeklopft, und immer, hatten wir gehört, immer sind sie freundlich empfangen worden.

So war es auch vor fünf Jahren in der Ukraine, als wir zum ersten Mal seit der Oktoberrevolution das Dorf Tynna besuchten, die Heimat der polnischen Großmutter. Podolien, ein Landstrich mit Erde, so schwarz und fruchtbar, als sei ein Aschenregen niedergegangen. Die Grabsteine: Verwittert, aber neuerdings gepflegt. Der Gutshof: kaum noch zu erkennen. Doch die Frauen des Dorfes übergaben uns ein Foto des Marienbilds aus der längst zerstörten Dorfkirche, das einzige, das sie hatten.

Was hat diese Begegnungen gelingen lassen? So vieles hat die drei Völker doch getrennt. Wenn (zum Beispiel) auf deutscher Seite vom Recht auf Heimat die Rede war, sprach die polnische Seite von ihrem Recht auf Haß. Die Angst vor einer Rückkehr der Deutschen war 45 Jahre lang der wirksamste, am Ende sogar der einzige Kitt zwischen Regierung und Bevölkerung. Zugleich wurde den Polen weisgemacht, Schlesien sei fast immer polnisch gewesen, so dass sich Polen oft wundern, wenn sie einem Schlesier begegnen, der kein Wort polnisch spricht.

Aber das Klopfen an der Tür war stärker als jede Propaganda und wirksamer als jeder Schulunterricht. Die Besuche der Heimwehtouristen und die Botschaft der polnischen Bischöfe von 1965 (»Wir vergeben und wir bitten um Vergebung«) haben erste Wege gebahnt. Die Parallelität der Schicksale zweier vertriebener Völker hat, anders als zwischen Deutschen und Tschechen, einen »Dialog unter Gleichen« erleichtert.

Ende gut, alles gut, Diskussion beendet? Ein polnischer Minister seufzte dieser Tage in kleinem Kreis, er müsse sich jetzt auf den EU-Beitritt konzentrieren und habe es eigentlich satt, sich mit diesem historischen »Sch...« zu beschäftigen. Es sei fatal, wenn das »Zentrum gegen Vertreibungen« im deutschen Wahlkampf instrumentalisiert werde. Über die Grenzen hinweg hat die Diskussion wohl erst begonnen. Die Wiedervereinigung Europas in der EU haucht alten Dämonen neues Leben ein; sie lauern hinter so freundlichen Begriffen wie Rechtsangleichung, Niederlassungsfreiheit und Wohlstandsgefälle und stellen die Nachbarschaft noch einmal auf eine harte Probe. Machen wir uns nichts vor: Die Wunden der Vergangenheit sind in Polen frischer als in Deutschland, wo Pflaster und Balsam reichlich vorhanden waren. Nur ein gutes Viertel der Polen, ergab kürzlich eine Umfrage, ist bereit, den Deutschen »zu vergeben und um Vergebung zu bitten«. Die Hälfte ist immerhin bereit, zu vergeben. Das letzte Viertel will den Deutschen weder vergeben noch sie um Vergebung bitten für das, was den Deutschen im Osten angetan wurde.

Gerade deshalb wäre es ein mutiger Schritt, in Schlesien eine Gedenkstätte für die Vertriebenen des Kontinents zu errichten, wie es immer mehr Polen jetzt fordern. Die beiden Großmütter, die Omi und die Babcia, würden sich darin wiederfinden. Jede litt für sich allein; gedenken wollen wir gemeinsam.

Gerhard Gnauck arbeitet als Korrespondent für DIE WELT in Warschau. »Wir Vertriebenen« ist in der WELT vom 17. Mai 2002 und wenig später in der Krakauer Wochenzeitung Tygodnik Powszechny sowie auf russisch und ukrainisch in den beiden Ausgaben des Kiewer Wochenblatts Dzerkalo Tyschnja erschienen.

Das geplante Zentrum gegen Vertreibungen

Bildquelle: KARTA
Unabhängige Organisation für die Aufarbeitung und Verbreitung der neuesten Geschichte Polens und Osteuropas in Warschau. Umfangreiche Archive.