Ungekürztes Manuskript des Vortrages vom 1. Juni 2008 im Konzerthaus am Gendarmenmarkt in Berlin
Peter Lachmann
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Publikum im Musikclub des Konzerthauses am Gendarmenmarkt, Berlin alle Fotos auf dieser Seite:
Dietmar Hiller, Dramaturg am Konzerthaus, gab in seiner Einführung einen kurzen Abriss über die Geschichte des Konzerthauses.
Dr. Klaus Harer, stellv. Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa, wies in seiner Begrüßung auf die vom Kulturforum produzierte, gerade erschienene CD mit der kompletten Kammermusik E.T.A. Hoffmanns hin.
Prof. Robert Traba, Direktor des Zentrums für Historische Forschung Berlin der PAN, stellte den Autor, Übersetzer und Regisseur Peter (Piotr) Lachmann und sein Schaffen vor.
Peter (Piotr) Lachmann bei seinem Vortrag
Schauspielerin Anemone Poland (2. v. r.) überbringt bei einem Umtrunk bei der Bronzeskulptur E. T. A. Hoffmanns auf dem Gendarmenmarkt neben dem Konzerthaus eine Grußbotschaft des romantischen Dichter-Komponisten.

Nach Bitten aus dem Publikum, den Vortrag von Herrn Peter (Piotr) Lachmann doch noch einmal zum Nachlesen zugänglich zu machen, hat sich der Autor freundlicherweise bereit erklärt, dem Kulturforum sein ungekürztes Vortragsmanuskript zur Veröffentlichung auf der Homepage des Kulturforums zur Verfügung zu stellen. Das Deutsche Kulturforum bittet, die für dieses Manuskript geltenden rechtlichen Bestimmungen am Fuß dieser Seite zu beachten.

E.T.A. Hoffmann und Warschau. Die Gegenüber- und Nebeneinanderstellung der beiden Namen mag gewagt klingen und erweckt eigenartige Assoziationen, bei den meisten überhaupt keine und im Grunde Befremden, ja Widerspruch. Weil auch die Begegnung selber und ihre jeweiligen Echos dies- und jenseits der Oder widerspruchsvoll und paradox waren und weil wir so wenig über sie wissen. Im Grunde genommen passen diese beiden Namen überhaupt nicht zusammen, stellen eher eine dissonanzträchtige Zwangspartnerschaft dar, die es zu kitten gilt, eben weil ein historischer Anlass und die Europa zusammenschweißende Ost-Westbrückenbauerei es als geboten erscheinen lassen. Der historische Anlass sind die 200 Jahre, die es her sind, seit Hoffmann statt in Wien in Berlin landete: »Ich war gezwungen, von Warschau nach Berlin zu gehen und dort 5/4 Jahre in der drückendsten Lage zuzubringen.« Vor fast genau 200 Jahren, als sich für ihn endlich eine ihn aus der extremsten Not, ja Hungersnot rettende Stelle in Bamberg abzeichnete, schrieb er denn auch an den Freund von Hippel: »Ich werde meine ganze Seelenruhe nur dann genießen, wenn ich dem Weichbilde Berlins entflohen bin.«

Und wenig mehr als ein Jahr zuvor: »Der Himmel gebe nur, dass ich Warschau erst verlassen kann.«

Die Tatsache, dass ein Autor, der mehr als nur Brückenbauer war, der zum gemeinsamen Erbe vieler europäischer Kulturen gehört, Kultautor sowohl in Frankreich als auch in Russland ist, gegenwärtig bis nach Südkorea und China ausstrahlt, sich just in Warschau, heute eine der EU-Hauptstädte, eine Zeitlang, und gar nicht zu kurz, tummelte, in Gesellschaft seiner Doppelgänger, die ihm das Leben hier wie anderswo nicht leicht machten, andererseits aber auch überhaupt die eigene offenkundige Zerrissenheit in den Aktenmann und den Notenmann ermöglichten – diese Tatsache kann, entsprechend in Szene gesetzt, die beiden einander so fremden und heterogenen, mehr Phänomene denn Namen, näherbringen und den Ausgangspunkt bilden für eine weit über den akuten historischen Jubiläumsanlass hinausgehende, eben gesamteuropäische Reflexion.

»Es kann kaum 200 Jahre her sein«, wie man mit einem Hoffmann-Held aus einer Berliner Erzählung ein fragment aus dem leben dreier freunde sagen könnte …

In Königsberg geboren, in Berlin qualvoll und im Kreuzfeuer eines politischen Skandals, einer preußischen Staatsaffäre gestorben, an vielen Orten als Multikünstler, wie man heute sagen würde, tätig, Städten wie Bamberg, Dresden, Leipzig und eben auch Posen und Warschau, dazwischen noch – quasi in Verbannung – Plock in Masowien, zuvor noch im schlesischen Glogau überaus produktiv und kreativ, mit einer Polin mehr oder weniger glücklich verheiratet, erscheint E.T.A. Hoffmann heute durchaus geeignet, eine Art dissonanzreiche Leitfigur auch eines neuen, europäischen, die nationalen Grenzen souverän überspielenden Bewusstseins abzugeben, das sich vor allem in Literatur, Musik und bildender Kunst artikulierte, ohne den Anspruch auf Berufstätigkeit und hochkarätige Professionalität zu vernachlässigen. Dass Hoffmann auch als Jurist sich einen Namen gemacht hat, vergessen häufig selbst die Literaturwissenschaftler, die auf diese Weise das in Hoffmanns Werk so stichhaltig gewordene Doppelgängermodell und dessen die Literatur und Kunst überschreitende Tragfähigkeit aus den Augen verlieren. Und eben dieses Modell, das die Dilemmata des modernen Künstlers aber ebenso auch des mündigen beziehungsweise nach Souveränität strebenden Bürgers in nuce enthält, und das sich – ohne ihm Zwang anzutun – auf die Probleme der Europäer von heute ausdehnen ließe, verdankt sich der Hoffmannschen Doppel- und Multibegabung und seiner letztlich radikal konsequenten Unfähigkeit zur Eindimensionalität, seiner permanenten Auflehnung gegen die persönliche Freiheit beschneidenden Zwänge, sei es nun in Form von gesellschaftlichen Konventionen oder staatlichen Rechtsbrüchen.

So gesehen erscheint Hoffmann als Vorläufer und Praktiker einer erst heute völlig relevant gewordenen »sozioanthropologischen« Neudefinition aller jener Europäer, die sich in engen nationalen Grenzen und engen Berufsbildern unfähig zur kreativen Selbst- und Miteinandergestaltung ihrer personality fühlen und die – ungeachtet der inneren Konflikte und der Konflikte zwischen konträren Leitbildern und nationalen Klischees – ein neues Lebensgefühl am eigenen Körper, im eigenen Geist, im eigenen kreativen Raum erproben, der ein europäischer Großraum ist, nicht isoliert vom globalen Welt- und dem darüberliegenden kosmischen Raum. E. T. A. Hoffmann ist ein Autor von Weltrang, dessen Phantasie sich nicht zügeln ließ, der selbst dann noch, als sein Körper zum Untergang verurteilt war, oder als Hoffmann, der Aktenmann, von den hohen Behörden als Fremdkörper und Störenfried der Restauration mundtot gemacht wurde, nicht auf das verzichtete, was seine Devise war, die er zwar der deutschen Romantik abgeguckt, die er aber zum Schlüssel seines eigenen Weltverständnisses gemacht hatte, nämlich den aus der Ironie gewonnenen und mit ihr verschwisterten Humor. Charles Baudelaire hat in seinem Essay über das Wesen des Lachens »Prinzessin Brambilla« als »Katechismus der hohen Ästhetik« bezeichnet und Hoffmann zum Großmeister der »absoluten Komik« erklärt. Diese, wie ich sagen würde, »kosmische Komik« des Hoffmannschen Werks und Lebens ist die Basis, auf der sich die beiden einander so fremdstehenden Phänomene Warschau und E. T. A. Hoffmann verständigen könnten. Sie vereint und transzendiert die tragischen, die scheinbar so endgültigen Erfahrungen von Tod und Zerstörung in eine Überregion, in der Hoffmanns Metaphysik der Töne, sein romantisches Sphärenmusik-Konzept noch und erneut absolute Gültigkeit besitzt und zu einem Ort selbst der unmöglichsten Begegnungen werden kann.

Ein besonderes Motiv muss in diesem Kontext herausgestellt werden, das sich aus der Erfahrung der unterschiedlichen Einstellungen von Deutschen und Polen zu einer nicht immer bequemen europäischen Schlüsselfrage ergibt. Es geht um die Haltung gegenüber der Freiheitsproblematik. Hoffmann bewunderte die polnische Freiheitsliebe, erkannte aber auch ihre Irrationalität: sie schien auch für ihn eine permanente Herausforderung darzustellen, zumal er in der engsitzenden Haut des preußischen Staatsbeamten steckte, aus der er nur ein einziges Mal schlüpfen durfte, und dies just in Warschau. Dort nämlich wurde ihm eine rare Glückserfahrung beschert, die sich zwangläufig ergab, als Napoleon den Polen die lang ersehnte Freiheit schenkte, wenn auch noch lange nicht so total, wie sie es sich erträumt hatten. Hoffmann hingegen »verdankt« Napoleon sein Warschauer Glück, als er vom Aktenmann-Sein radikal befreit wurde und sich ganz und gar seinem Traum von großer Musik widmen konnte, mit noch lange nicht zufriedenstellendem Resultat. Aber immerhin – es war der Ansatz zu der späteren, so geglückten Laufbahn als einer der größten deutschen Romantiker und Romantiküberwinder, in Literatur und Kunstphilosopie. Der Traum vom mozartgleichen Komponisten wurde hier (fieber)geträumt, er ging auf anderem Gebiet in Erfüllung: E.T.A. Hoffmann wurde zum Mozart der deutschen romantischen Literatur, zum Großmeister des literarischen Kontrapunkts, der für ihn ein mystischer Algorithmus war. Balzac erkannte diese Zusammenhänge, als er an Maurice Schlesinger schrieb: »Lesen Sie, was ihr lieber Hoffmann, der Berliner, über Gluck, Mozart und Beethoven geschrieben hat und sie werden erkennen, an welche geheime Gesetze sich Literatur, Musik und Malerei halten.«

Seltsamerweise hat hier ein von Hoffmann faszinierter und inspirierter Schriftsteller mehr erkannt als es die Literaturwissenschaftler vermögen: den integralen Zusammenhang und -halt der Künste, die den fragil-agilen Hoffmann nicht zerschnitten sondern erst so richtig zusammenhielten.

Die erste gewaltige Romantikspritze erhielt er in der heute wiederhergestellten Warschauer Altstadt, in der Freta-Straße, durch die Vermittlung des deutschen Juden Isaak Elias Itzig, später Julius Eduard Hitzig. Wenn das kein gesamteuropäisches und über Europa hinausweisendes Vorspiel ist? Und ein Anstoß zum freien Denken, fernab von allen heutigen gesamteuropäischen Querelen!

In dieser wohlfeilen und mich selbst einlullenden Manier könnte ich fortfahren. Nun mahnt mich das heikle schwarze Loch im Titel zum Einhalten. Was verstehe ich darunter? Ich möchte die metaphorische Unverbindlichkeit des Titels ein wenig eingrenzen.

Als ich vor einer Woche in der quirligen Warschauer City, die mich immer stärker an Berlins City erinnert, in Gedanken an den Vortrag, den ich nun halte, eine Kreuzung passierte, hörte ich einen seltsamen Satz: »Man sollte nur dunkle Dinge erörtern«. Von meinem Ohr herausgepickt, übertrug ich den Satzfetzen sofort auf den Vortrag. Der Bezug zu Hoffmann entstand durch eine recht verquere Zeichenoperation: Die Kreuzung in Warschau lag zwischen der Aleje Jerozolimskie (der Jerusalemer Allee) und der ulica Świętokrzyska (der Heiligkreuzstrasse): Hoffmann liegt auf dem Friedhof der Jerusalemer Gemeinde in Kreuzberg. Das haut genau oder ungenau hin. Warschau hingegen liegt auf einem scheinbaren Berg voller Kreuze. Das mag dunkel klingen. Doch: Nur dunkle Dinge sollten erörtert werden. Der Fall Hoffmann bietet sich als ein solches an, trotz seines gerade in Warschau erstmalig zur Geltung gekommenen Glanzes. Die Jahre, die Hoffmann in Warschau zubrachte, gute drei Jahre zwischen 1804 und 1807, die jedoch alles andere als gut waren, sind die Geburtstunde des uns mehr oder weniger wohlbekannten E. T. A. Hoffmanns. Anstatt des ursprünglichen W’s, sprich Wilhelm, seines dritten Vornamens, haben wir es seit dieser Zeit mit dem weltbekannten, gegenwärtig bis nach Fernost ausstrahlenden E. T. A. Hoffmann zu tun: Das A. nämlich erschien erstmalig auf dem Titelblatt der Partitur die lustigen musikanten, und wir wissen, dass es da für Amadeus steht. Am 6. April 1805 wurde das Singspiel die lustigen musikanten als Werk eines »hiesigen Dilletanten« wie es statt Hoffmann auf dem Theaterzettel stand, in Warschau aus der Taufe gehoben. In Warschau, jenem von mir unterstellten schwarzen Loch.

In der populärsten Definition eines schwarzen Loches, wie wir sie uns in der Wikipedia erklicken, lesen wir: »Der Ausdruck ›Schwarzes Loch‹ verweist auf den Umstand, dass auch elektromagnetische Wellen wie etwa sichtbares Licht den Ereignishorizont nicht verlassen können und es einem menschlichen Auge daher vollkommen schwarz erscheint.«

Die Metapher des Vortragstitels meint also einen Ort, in dem selbst glanzvolle Ereignisse keine Chance besitzen, die Lichtgrenze zu durchbrechen.

Es gab im Warschauer Zeitraum E. T. A. Hoffmanns eine kritische Fast-Endphase, in der der Romantiker sich selbst als eine Art Leuchtkörper empfunden hat. In einem seiner letzten Briefe aus Warschau vom 20. April 1807 an Julius Eduard Hitzig, der damals noch Itzig hieß, schrieb Hoffmann: »Bald nachdem Sie abgereiset waren, wurde ich wieder kränker und mußte die Stube hüten; am Ende fuhr mir der KrankheitsStoff überall heraus, so daß ich Abends einen phosphorischen Glanz um mich verbreitete …«

Wir wissen per definitionem nur wenig oder eben gar nichts darüber, was sich in so einem schwarzen Loch abspielt. Nun habe ich das Glück oder Pech, in eben diesem konkreten schwarzen Loch Warschau seit etlichen Jahren, ja, seit zwei Jahrzehnten zu leben und zu arbeiten, und da gingen mir die Augen auf und schließlich über … Zwar dringt kein Licht nach außen, weder helles noch schwarzes, und umgekehrt auch nach innen zu dringen hat es das Licht schwer; im Loch selber jedoch kann man sich an den apartesten Lichteffekten und bizarrsten Leuchtkörpern ergötzen, sie schaffen eine autarke und sich selbst blendende Doppelwelt, die mich an die Stadt Valdrada aus Italo Calvinos poetischem Städtepanorama die unsichtbaren städte erinnert. Valdrada, jene Stadt, die doppelt, permanent sich selbst widerspiegelnd für sich allein mitsamt ihrem Spiegelbild besteht: In ihr wird Selbstbespiegelung zur Existenzberechtigung. Calvinos Beschreibung dieser Stadt enthält allerdings eine nicht ernst genug zu nehmende Warnung: »Der Spiegel vermehrt einmal und negiert einmal die Bedeutung der Dinge. Nicht alles, was über dem Spiegel Bedeutung zu haben scheint, hat Bestand, wenn es gespiegelt ist«. Hoffmann musste sich davon, als er im Sommer 1807 an der Spree eintraf, auf höchst schmerzhafte Weise überzeugen. Er erlebte hier sein Berliner blaues Wunder … Nicht genug, dass sein oberster Dienstherr, der preußische Großkanzler Goldbeck, der dirigierende Justizminister, ihn mit den Worten empfing: »Es ist mir nicht angenehm, Sie hier zu sehen. Sie hätten in Warschau bleiben sollen.« Er, der soeben erst in Warschau den Huldigungseid an die neuen Machthaber verweigert hatte … Vor allem aber erwiesen sich seine Warschauer Leistungen und seine Einbildungen darauf in Berlin als null und nichtig.

Er schrieb: »In Warschau konnte ich Opern stoßweise komponieren, ohne dass irgend eine Menschenseele davon Notiz nahm« – in Berlin nämlich. Die recht hochstapelnde Auflistung aller seiner Warschauer Ämter und Ehrenämter, Verdienste und Erfolge, sein Warschauer Durchbruch als Komponist brachten ihm gerade mal das Angebot einer Stelle als Korrektor eines Musikverlages ein.

Er hatte dafür eine Erklärung, die recht aktuell klingt:

»In Warschau hat man Messen und Opern von mir aufgeführt, und dass ich nicht bekannt geworden bin, liegt bloß daran, dass Warschau kein Ort ist, der einige Konkurrenz hinsichtlich der Kunst hat …«

Gänzlich resigniert, für Hoffmann ein seltener Zustand, klagt er in seiner „drückendsten Berliner Lage“: »Mit Talenten mancherlei Art zu darben ist vernichtend …«

Die Talente kamen an der Weichsel zum Erblühen, infolge der schockhaften Konfrontation mit der Stadt, die ihn erst verwirren, dann aber immer stärker bezaubern musste. Nach dem »verdammten Loch« Plock musste ihm Warschau wie ein Wunder erscheinen.

Schon von weitem machte Warschau einen Fata-Morganahaften Eindruck: Ein Reisender aus Frankreich (Fantin de Odoards) berichtet 1807, also dem Jahr, in dem Hoffmann die Stadt bereits wieder verließ:

»Mit Warschau verhält es sich anders als mit so vielen anderen großen Städten, deren Einfluss bereits meilenweit fühlbar ist und die man daher auch meilenweit vorausahnt bevor man ihrer ansichtig wird. Als ich, nachdem ich riesige Sandebenen durchquert habe, die hier und da in weiten Entfernungen Spuren einer Halbzivilisation verraten und dann Warschau mit seinen hohen Bauten, Türmen und zahlreichen Glockentürmen erblickte, war ich sprachlos vor Staunen. Diese große, reiche und dicht besiedelte Stadt inmitten dieser Ödnisse erschien mir als unerhörtes Ereignis.«

Joachim Christoph Friedrich Schulz schreibt in seiner reise nach warschau, es sei womöglich ein größeres Wunder, dass Warschau unter den gegebenen Umständen 95 Kirchen, Kapellen und Paläste besitze als dass Rom 345 Kirchen und 164 Paläste aufzuweisen habe. Auch ein Vergleich mit Berlin findet man bei Schulz: In Warschau sieht man während der Sejm-Tagungen und Ballsaison mehr Kutschen an einem Tag als in Berlin in einem ganzen Monat.

Für unseren Zusammenhang relevanter scheint, was Schulz über ein vexierbildhaftes Phänomen zu sagen hat:

»Warschau liegt an einer ausgebreiteten Ebene, auf dem linken Ufer der Weichsel, welches so hoch hinanläuft, dass man, wenn man von Litauen herkommt, versucht ist, zu glauben, die ganze Stadt sei auf einem wirklichen Berge erbaut. Dies ist aber, genau genommen, nicht der Fall, da dieser scheinbare Berg, sich rechts, links und hinterwärts in eine Fläche ausdehnt, ohne dass man den geringsten Abhang gewahr wird.«

Mit dem vexierhaften äußeren Erscheinungsbild korrespondiert das innere, das allein dadurch so sinnestäuschende Züge trägt, weil die Stadt ein spiegelsystemhaftes Gebilde darstellt, hochgradig fließend, in dem sich Ost und West, Byzanz und Rom, und gegenwärtig vor allem das junge und das alte Warschau begegnen und parodieren, das Phantom der Zerstörung mit der neuen vehement wuchernden und amorphen Form. Es ist eine Art Valdrana hoch zwei, hoch drei. Italo Calvino baute sein Modell noch weiter aus:

»Die beiden Zwillingsstädte sind nicht gleich, weil nichts, was in Valdrada ist oder geschieht, symmetrisch ist: Jedem Gesicht und jeder Geste antworten aus dem Spiegel ein Gesicht oder eine Geste, die Punkt für Punkt umgekehrt sind.«

Aus meiner Warschau-Autopsie, aber ganz besonders auch aufgrund meiner Beschäftigung mit dem Hoffmann-Bild und seinen Abbildern in der Spiegel-Doppel-Stadt möchte ich über diese Asymmetrie hinausgehen: Die Gesichter und Gesten mutieren wie von selbst zu Fratzen und grotesken Gebärden. Hoffmann selbst liefert in dieser Hinsicht ein beklagenswertes Beispiel: Er, der mit karikaturlastigem Elan Begnadete, der auch in Warschau trotz des bösen Posener Vorspiels, das ihm seine Quasi-Verbannung nach Plock einbrachte, nicht erlahmte, unterlag selbst einer scheinbar irreversiblen Karikaturisierung. Denn in eben diesem Raum, der mehr einem Zerrspiegelkabinett oder einer trugbildhaften Videoinstallation ähnelt, verschwindet der historische Hoffmann spurlos beziehungsweise taucht flüchtig mal da mal dort auf, selbst Bestandteil einer solchen Installation, die sich der rationalen Forschung und getreuen Abbildung spukhaft zu entziehen weiß, fast wie der Held der Berliner Italien-Geschichte Hoffmanns abenteuer der silvesternacht, der kein Spiegelbild hat und sich zu Chamissos mann ohne schatten gesellt. Von Hoffmann ist in Warschau, um es abermals paradox zu formulieren, aber wohlwissend, dass diese Paradoxie dem Phänomen durchaus auf den imaginären Leib geschrieben ist, nur sein von der Geschichte, der großen Geschichte aus dem Rahmen gestohlenes Spiegelbild übriggeblieben, ein geisternder Schatten auf dem Kopfsteinpflaster der Warschauer Altstadt, einem Mosaik aus virtuellen Totenköpfen anstelle der realen, die hier einst rollten.

E. T. A. Hoffmanns winziger Spiegelbild-Schatten lief mir mehr torkelnd denn funkelnd in jener Altstadt, in der ich damals wohnte, über den Weg. Genau dort, wo Hoffmann sein erstes Warschauer Domizil gefunden hatte, und wo man heute von einem Gefühl erfasst wird, das Franz Fühmann vor Jahren, als er E.T.A. Hoffmanns unheimliche Welt mit der Scheinwelt der DDR gleichsetzte, folgendermaßen beschrieb:

»Und dann war auch das alte Gemäuer nicht mehr, sein Stein wurde Staub, seine Balken wurden Rauch, doch das Schloss ist getreu wieder aufgebaut … Darf ich niederzuschreiben wagen, daß mich vor diesen Fassaden schaudert, die ohne einen alten Stein uns den Fortbestand des Alten heucheln?«

In dieser kulissenhaften Altstadt nun begegnete ich dem verzerrten Schattenriss des Geistersehers, doch – wenn auch kaum zu glauben – gerade von dem prächtigen Haus, in dem er gewohnt hatte, ist mehr als ein Stein stehengeblieben. Und vielleicht fungierte das Gespenst dank dessen nicht durchweg als Phantom, vielleicht haftete ihm via Palais »Pod Samsonem«, das zur Hälfte stehen geblieben ist, noch etwas von der realen Person an, die hier, aus dem Fenster auf das lärmige Gewimmel in der Fretagasse hinabsehend, in seinem ersten Warschau-Brief an den Freund von Hippel eine atemberaubende Beschreibung lieferte, die der viel späteren des Treibens auf dem Gendarmenmarkt in des vetters eckfenster, die als Zäsur in Hoffmanns Schaffen und als Kehre zum Realismus hin gilt, durchaus das Weichselwasser reichen kann.

In diesem diffusen, hier nur schematisch umrissenen Stadt-Bild nun spielt sich auch das heute nur noch als Schattendasein zu bezeichnende Nach-Leben des deutschen Romantikers ab. Sein einstiger Doppelstatus, sein rastloses Pendeln zwischen Künstler- und Beamtendasein, Notenmann und Aktenmann, fügt sich bestens in dieses ambivalente Feld ein und neigt dazu, sich in Schattengewächsen eigener Art fortzupflanzen und in deren Spiegelbildern weiterzuwuchern.

Um die Beweise nicht schuldig zu bleiben und endlich dieses quasi-theoretische Poetisieren oder poetische Theoretisieren, das für Sie vielleicht recht ermüdend ist, abzubrechen, schreite ich nun in medias res und stelle eine Art Gretchenfrage, die mit Hoffmanns bzw. des Kapellmeisters Kreisslers eigenen Worten lautet: »Was haben sie gegen meinen ehrlichen Namen?« Konkreter: War Hoffmann der Mann, der junge Mann im Kostüm des preußischen Regierungsrates, der den Warschauer Juden in der Periode, da Warschau die Hauptstadt der Provinz Südpreußen war, ihre deutschen, größtenteils wie Spottnamen klingenden Namen verlieh?

Als ich erstmalig nach Warschau kam und eine Frage nach Hoffmann stellte, hörte ich vor allem und als einziges, womit er sich einen festen Platz im Gedächtnis der Stadt erworben habe. Er und kein anderer sei der Erfinder der deutschen Namen für die Warschauer Juden gewesen, und nicht ohne kaum versteckte Schadenfreude betonte man seine besondere Einbildungskraft, mit der er sich der Aufgabe gewidmet habe. Nichts oder fast nichts erfuhr ich über seine nachprüfbaren Verdienste und Erfolge, kaum ein Wort über seine Tätigkeit als spiritus movens der ersten Warschauer Musikgesellschaft, als Mozart- und Beethoven-Enthusiast und Dirigent, als Komponist eigener Singspiele, einer Symphonie und einer Messe und anderer Kompositionen, auch nichts über die persönlichen Ereignisse wie die Geburt seiner einzigen Tochter Cäcilia, nichts über die phantastischen Fresken im Mniszechschen Palais und so weiter – alles das nachlesbar in den einschlägigen Hoffmann-Biographien deutscher Zunge, in denen allerdings kein Sterbenswörtchen über jene zur Warschauer Stadtlegende geronnene amtliche Produktivität des virtuosen Stellschrifters, wie er sich später in Berlin selbst nannte, zu lesen ist. Und an dieser phantastischen Tatsache hat sich bis heute nur sehr wenig geändert.

Die genannte Vermutung hat neben ihrer Beharrlichkeit als Stadtlegende ihren festen Nebensitz in einer Reihe von Trivialromanen, die Hoffmann mehr oder weniger groteske bis hin zu Diabolik und Lächerlichkeit reichende Züge verleihen. Und merkwürdigerweise hat die klaffende Zäsur der fast völligen Stadtvernichtung dieser Legende keinen Abbruch getan. Im Gegenteil, man kann eine Art wuchernde Kontinuität der Unterstellungen und fiktionalen Darstellungen der Hoffmannschen Aktivität auf diesem fatalen Feld feststellen: Mit einer eigentümlichen, ja unheimlichen Unbekümmertheit wird da fortgesponnen, das Schwerwiegende und die Implikationen dieser Unterstellung völlig außer acht lassend. Dabei weiß man mittlerweile, was es von Anfang an und erst recht später bedeutete, diese Namen zu tragen. Ich zitiere aus antisemitismus, vorurteile und mythen die Aussage von Leo Löwenthal:

»Die Besudelung der Juden erreicht dann ihren Höhepunkt, wenn Juden, noch ehe man sagt, dass es sich um Juden handelt, durch ihre jüdisch klingenden Namen charakterisiert werden. Jetzt ist die Beute sichergestellt … Der jüdische Name ist ein Etikett, welches die Natur des Trägers deutlich bezeichnet, er ist ein Stigma, er nagelt den Juden fest, so dass er nicht mehr entweichen kann.«

In einem Roman von Witold Budzikiewicz von 1938, der Hoffmann zum besessenen Anbeter eines nachgerade mystischen Röschens, einer polnischen jugendlichen Sängerin Różyczka macht, geht der Autor soweit, die Namen, die Hoffmann an einem Tag seinen jüdischen Bittstellern verpasste, allesamt, quasi in einem Sublimierungsrausch von eben jenem Röschen abzuleiten. Das Zitat erspare ich Ihnen. Es wäre nur vergleichbar den ähnlichen Phantastereien in anderen Romanen, deren Autoren sich alle darum bemühten, Hoffmanns Spitzfindigkeit und zugleich Launenhaftigkeit zu veranschaulichen mit mehr oder weniger Geschick und Geschmack. Budzikiewicz geht in seinem Roman, der den Titel schwarzer karneval trägt, jedoch noch viel weiter. Er unterstellt seinem Karikatur-Hoffmann, dieser fühle sich in seiner »zivilisatorischen Mission den polnischen Juden« gegenüber nicht nur sehr wohl, sondern vor allem auch als deutscher Beamter hochgradig motiviert, stolz auf seine onomastische Virtuosität. Ich zitiere:

»Diese Vor- und Nachnamen fügten sich zu einem grotesken Mosaik, über dessen Formen und Farben Hoffmann sich amüsierte. Nun wird es ein wenig bunter und lustiger zugehen auf Erden, wenn so viele Hanswurste plötzlich zwischen den anderen Menschen aufkreuzen werden. Seid gegrüßt.«

Und der letzte Satz dieser beklemmenden Passage lautet, Hoffmann in den Mund oder Kopf geschoben:

»Ich habe euch so fest an Deutschland gebunden, dass nur irgendeine Katastrophe diesen Knoten lösen kann.«

Nachdem nun diese eingetreten war, haben sich Hoffmanns Spuren in Warschau dennoch nicht vertieft. Mit zwei Ausnahmen: Der Literaturwissenschaftler Michał Glowiński hat in seinem Erinnerungsbuch ans Warschauer Getto, schwarze saison, eine anonyme Gestalt, ein skurrilles Wesen mit den grotesken Figuren einer Hoffmannschen Geschichte verglichen. Die schlimmen Namen haben sich mitsamt ihren Trägern in Schall und Rauch aufgelöst. Das zweite Beispiel, das eine längere Darstellung verdiente: Der große Theaterreformer Leon Schiller startete den erfolglosen Versuch, Hoffmanns Bedeutung in ähnlicher Weise für Polen bewusst zu machen wie es in Frankreich und Russland längst geschehen war, wo Hoffmann ganze Schulen besitzt. In seiner theaterreise mit mickiewicz und odynie konfrontierte er Hoffmanns Geist mit den Deutschland bereisenden polnischen Romantikern und ließ den über Hoffmanns und Kreisslers Genie baffen Mickiewicz den paradoxen Satz sagen: »Das Echo meiner noch nicht ausgesprochenen Worte«. Leon Schillers Tod und mangelndes Interesse verhinderten die geplante Großinszenierung auf der Basis dieses Buches, ähnlich wie Tarkovskij es nicht mehr schaffte, seine goffmanniana zu verfilmen.

Die böse Legende jedoch lebt weiter, und wurde auch nach dem Krieg erneut von der Trivialliteratur aufgegriffen und weiter variiert. Besonders von Władysław Zambrzycki, der in seinem humoristischen Warschauroman pamiętnik filipka von 1956 Hoffmann zu einem preußischen Scheusal stilisierte, das den Juden je nach aktuellem Speisezettel seiner polnischen Ehefrau Misia oder nach den am Vortag überreich genossenen Getränken die davon abgeleiteten Namen verpasste. Das alles wäre nicht erwähnenswert, wenn es nicht einen echten und für Polen hochverdienten Historiker gäbe, der sich, auf eine lange Passsage aus eben diesen Roman Zambrzyckis wie auf eine Quelle berufend, Hoffmann diese Rolle allen Ernstes zuschreibt. Es ist Norman Davies, der englische Forscher, in seinem Buch im herzen europas, polens geschichte (erschienen auch auf Deutsch 2000 im Beck Verlag). Davies hätte wenigstens Marian Fuks geschichte der warschauer juden zitieren können, in der Hoffmann zwar in der gleichen Rolle auftritt, aber bedeutend differenzierter und konzilianter. Fuks vergleicht Hoffmanns mildere Methoden mit den brutalen russischen Praktiken, denen die Juden Stigmata mit einem noch höheren und provozierenderem Spottpotential verdanken: Die russischen Beamten griffen einfach nach Namen aus dem polnischen Hochadel. Doch auch Marian Fuks kann keine historische Quelle für diese seine Darstellung nennen. Auch er scheint sich hier völlig auf die Warschauer Legende zu verlassen.

Daran, dass Hoffmann bei der Erfüllung des Königlichen Erlasses vom 17. April 1797, Basis des sogenannten Judenreglements, seine hurtigen Finger mit ihm Spiel hatte, lassen weder Fuks noch Zambrzycki noch andere Autorinnen und Autoren irgendwelche Zweifel. Von alledem weiß man im benachbarten Deutschland und bei den zahlreichen Hoffmann-Forschern so gut wie gar nichts. Als ich am Donnerstag den angesehenen deutschen Hoffmann-Biographen Rüdiger Safranski fragte, ob er je etwas von dieser Warschauer Legende gehört habe, verneinte er es und sah mich dabei leicht stirnrunzelnd an.

Im großen Warschauer Vexierbild nun diese Hoffmann-Vexierbild-Miniatur, wie ein unverzichtbares Element: Schwarze-Loch-Optik. Und weiterhin das immense Defizit bezüglich seiner eigenen Einblicke, die in seinen Jahre später geschriebenen Erinnerungen an Warschauer Konzerte und Opernaufführungen einen so beredten Ausdruck fanden. Und seine rastlose Zeit als Warschauer Flaneur, der Eindrücke aufschnappt wie eine kreisende Kamera. Hoffmanns beflügelte Beschreibung der Polonäse als eines romantischen Rituals, die sieben Jahre nach seinem fluchtartigen Verlassen der Stadt entstand und in der allgemeinen musikalischen zeitung in Leipzig erschien, ist anschaulich wie eine Filmaufzeichnung. Die über Wochen sich erstreckende Beobachtung der Napoleonischen Paraden im Januar 1807 auf dem Sächsischen Platz in Warschau durch Hoffmann musste sein hartes Urteil über den Kaiser vertiefen, der wie zuvor in Paris dem Kriegsschauplatz das Theater der Uniformen und Defiladen vorausmarschieren ließ. Diese selbst mochten für Aufmärsche und Schlachten in nussknacker und Mausekönig erste Vorbilder sein.

Warschau war für Hoffmann zweifellos eine Quelle der Inspiration und der Einblicke in eine faszinierende und exotische Welt, die für ihn, den nach wahrer Romantik und zugleich Realitätssprüngen Fahndenden, wertvolle Funde bereitstellte. Doch wie verzerrt spiegelt sich dies wider in seinen von anderen Autoren nachgezeichneten Spuren.

Der Held eines weiteren Trivalromans von Wacław Biliński (erschienen 1979), koniec wakacji (»Ferienende«), wird durch den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges an seiner Absicht gehindert, eine »belletrisierte Monographie« über die polnische Periode Hoffmanns zu schreiben. Er vertraut seine diesbezüglichen Thesen einem deutschen Wehrmachtsmajor mit, der ihn verhört.

»Auf dem Gesicht des Deutschen kam nicht die geringste Spur von Interesse auf“, heißt es im Roman. Also klärt ihn der Pole auf: „Aus Warschau, wie mir scheint, hat Hoffmann die romantische Vision des Lebens an der Traumgrenze gewonnen. Ich bin der Ansicht, fast sein gesamtes Schaffen, oder zumindest dessen wertvollste Elemente sind ein Ergebnis der polnischen Erfahrungen des Autors.«

Das ist das genaue Gegenteil dessen, was man in einer Marburger, im Übrigen ausgesprochen einfühlsamen Dissertation mit dem Titel der ritter gluck von nn nachlesen kann: Ihr Autor Hartmut Spiegelberg, der eine Menge über das Glucksche Gespenst in Berlin zu sagen weiß, versagt bei der Beschreibung der Hoffmannschen Schaffensperiode in Warschau. Sie sei »unschöpferisch« gewesen, nur „»übersetzt«, nicht einmal umgesetzt habe Hoffmann dort, sogar die phantastischen Fresken seien nichts anderes als ein pures Ausmalen einer Tieckschen Vorgabe.

»Wie er in Warschau als Komponist nur übersetzt hat – Mozartsche Klänge in eigene Partituren –, so hat er auch hierbei nur übersetzt, sieht man genau hin.«

Nur dass man eben nicht mehr genauer, ja überhaupt nicht mehr hinsehen kann: Die Fresken waren bald wieder von den Wänden des Palastes der Mnischechs verschwunden, übriggeblieben und überliefert ist nur eine vage Beschreibung seines Amtskollegen Hitzig:

»Die wunderlichsten, prächtigsten Blumengewinde, die üppigsten Pflanzenverschlingungen zogen sich von der Decke hinunter und umrankten die Wände, dazwischen gaukelten und neckten mutwillige Geisterchen sich auf Blattstielen, guckten seltsame Tier- und Vogelgestalten mit menschlichen Zügen, Menschen mit tierischen Angesichtern und allerlei wunderliche Köpfchen mit seltsamen, verdächtig hohen Stirnen, wie sie in seinen Erzählungen nur noch leben, so dass des Gewirres kein Ende war …«

Was hätte Hoffmann zu derlei pauschalen Unterstellungen gesagt, wie man sie jetzt in wissenschaftlichen ebenso wie in fiktionalen Werken findet? In einem Text aus dem schreibkalender für 1809 schrieb er allerdings selbst:

»Es müßte spaßhaft sein Anekdoten zu erfinden und ihnen den Anstrich höchster Authentizität durch Citate usw. zu geben, die durch Zusammenstellung von Personen, die Jahrhunderte auseinander lebten oder ganz heterogener Vorfälle sich als gelogen auswiesen. – Denn mehrere würden übertölpelt werden und wenigstens einige Augenblicke an die Wahrheit glauben.«

Und er fügt noch hinzu, man müsse diesen erlogenen Anekdoten – »desto besser« – einen Stachel geben. Als Beispiel liefert er eine eigene Lügengeschichte, in der Calderon als Entdeckung und Stipendiat Friedrichs des Großen auftritt. Der Autor eines nach Hoffmanns Tod erschienenen Buches über Friedrich den Großen fiel sogar darauf herein. In Bilińskis Unterstellung, Hoffmann verdanke ausschließlich Warschau seine Poetik, wäre Hoffmann gleich Calderon und Polen gleich Friedrich der Große. Doch der Stachel ist nicht scharf genug, er gleicht eher einem stumpfen Nagel, den der Autor zwar auf den Kopf trifft, ihn aber schief einschlägt. Bilińskis trägt die üblichen nationalen Scheuklappen, die in diesem Falle besonders ungeeignet scheinen.

In Hoffmanns Werk gibt es komplementär zu dem rein Fiktiven stets auch die Einsicht in die Phantastik des Realen.

»Man war darüber einig, daß die wirklichen Erscheinungen im Leben oft viel wunderbarer sich gestalteten, als alles, was die regste Fantasie zu erfinden trachtet – und dass eben deshalb die sogenannten historischen Romane, worin der Verfasser, in seinem müßigen Gehirn bei ärmlichem Feuer ausgebrütete Kindereien, den Taten der ewigen, im Universum waltenden Macht beizugesellen sich unterfängt, so abgeschmackt und widerlich sind.«
(Zitiert aus: das öde haus)

Hoffmann hätte also doch wohl, wie wir es tun, Romane wie die von Zambrzycki und Biliński nicht anders eingeschätzt, zumal sie gänzlich all das ausklammern, was sich in Wirklichkeit in der Weichselstadt ereignet hatte und was Stoff für einen großen phantastischen Roman und noch besser für eine Oper abgeben könnte, die denn allerdings die Schwarze-Loch-Grenze passieren müsste.

Müßig also die Frage, welcher Phantastik man bei der Rekonstruktion des Warschau-Gesamtbildes Hoffmanns den Vorzug gibt: Die Triftigkeit der polonozentrischen These der Hoffmann-Monographie, die Bilińskis Held zu schreiben beabsichtigte, wäre übrigens genauso anzuzweifeln wie die im Roman unterstrichene Ahnungslosigkeit des Wehrmachtsmajors. Just in der Zeit der deutschen Besatzung erinnerte man sich in Warschau des Landsmanns, der während einer bedeutend samteneren Besatzung hier seine Finger im Spiel und vielleicht eben doch nicht nur im Klavierspiel hatte.

Hoffmann bekam damals sogar eine eigene Straße in Warschau. Die Aleja Przyjaciół, die Allee der Freunde, wurde in ulica Hoffmanna umgetauft. Ich erfuhr es erst kürzlich aus einem Leserbrief nach der Veröffentlichung meines Artikels in der gazeta wyborcza 2006, in dem ich für die Errichtung eines, und sei es virtuellen Denkmals für Hoffmann in Warschau plädierte. Er hat es genauso verdient wie die Stadt. Diese sogar noch viel mehr.

Der Romantiker Hoffmann datiert seit seiner Warschauer Periode. Denn hier las er das vor wenigen Jahren in Berlin erschienene Kultbuch der Romantik, Tiecks franz sternbalds wanderungen. Das mochte Hoffmann die Sprache sprich Schrift verschlagen haben, so dass er, der Programmatik des Buches folgend, in der Tat nichts anderes in Warschau mehr zu tun gehabt haben mochte als von einer möglichst baldigen Reise nach Italien zu träumen. Ein Gerücht schickte ihn sogar dorthin in Begleitung eines polnischen Grafen, doch er dementierte dies energisch in einem Schreiben an seinen Freund von Hippel in Berlin, mit dem er die Reise antreten sollte. In Warschau lernte er derweil flugs Italienisch und italienische Dialekte, Venezianisch, Neapolitanisch. Die Stadt wurde für ihn zum Italien-Ersatz und -Simulacrum. Bei einem Wolkenbruch imaginierte er denn auch Gondeln in die Warschauer Straßen.

Für Hoffmann konnte die Stadt einen Dauersinnesrausch bedeuten und ein wirres Glück seiner Doppelgänger, die er aus Plock mitgebracht hatte, wo sie erstmalig in Erscheinung getreten waren. Einer von ihnen erscheint in Warschau allerdings seltsam untätig. »Wo nehme ich Musse her, um zu schreiben – zu zeichnen – zu komponieren?“ schrieb er in seinem berühmten ersten Warschauer Brief an von Hippel, kurz nach der Ankunft am 14. Mai 1804. Sollte es zum Schreiben nicht gereicht haben? Oder ließe sich Musse auch als Muse lesen?

Wir haben nur aus den Warschauer Briefen Hoffmanns Informationen aus erster Hand und aus der knappen Darstellung seines Amtskollegen und späteren Biographen und Verlegers Hitzig solche aus zweiter Hand. Hat Hoffmann in Warschau – bis auf die Briefe – gar nichts geschrieben?

Wir wissen, dass Friedrich Schnapp, der Herausgeber des Hoffmannschen Briefwechsels, die Vermutung äußerte, Hitzig, Hoffmann, aber vor allem Frau Hoffmanns guter Geist habe »ganze Berge der pikantesten vertraulichsten Mitteilungen aus einem Zeitaum von fast 40 Jahren nach genauer Durchsicht dem Feuer übergeben, und die Vermutung liegt nahe, dass sich das Autodafe auch auf Hoffmannsche Papiere erstreckte.« Mich ließ der Umstand aufhorchen, dass das in Plock begonnene, sehr informative und attraktive Tagebuch Hoffmanns mit dem Tag seiner Ankunft in Warschau abbricht und erst wieder fortgesetzt wird, als er von Warschau in Berlin eintraf. Es gibt zwar auch andere lückenhafte Perioden in dem unsystematisch geführten Tagebuch, doch ist es für mich signifikant, dass diese Warschauer immerhin gut dreijährige Lücke von der Forschung nicht kommentiert wurde. Nur weil man vom schwarzen Loch Warschau gar nichts erwartet? Es scheint als recht unwahrscheinlich, dass Hofmann, der vom Warschauer exotischen Treiben, das er selber mit anheizte, so hochgradig affiziert war, außer in seinen Briefen nichts festgehalten hätte. War er denn so wirklich so völlig ausgelastet mit Komponieren, Zeichnen, Zechen und Aktenmann-Sein, dass ihm für das Tagebuch keine einzige Minute mehr blieb? Es sei denn, er widmete seine übrige Freizeit den von Hitzig in seiner Darstellung der Hoffmannschen Warschauer Zeit recht geheimniskrämerisch angedeuteten »Genüssen«, die ihm die Stadt gezeigt haben sollte.

Unter diesen bieten sich natürlich in erster Linie amouröse Aktivitäten an, die auch Peter Härtling im Warschau-Kapitel seines Romans hoffmann oder die vielfältige liebe unterstellt, wobei er allerdings rein kontrapunktisch der Ehefrau Mischa eine polnische selbstverständlich jugendliche Altsängerin Mascha entgegenstellt, und aus dieser fiktiven Beziehung eine Art blasses und im Grunde banales Vorspiel der Bamberger Julia-Affäre macht. Wäre es nicht denkbar, dass Hitzig den Warschauer Teil des Hoffmannschen Tagebuchs seinem kleinen Scheiterhaufen überantwortete, da es Dinge enthielt, die auf diese »Genüsse« Bezug nehmen, und die der Witwe, um deren Wohlergehen er sich so einfalls- und erfolgreich sorgte, Schmerz bereiten könnten? Die Unterstellung, seine eigene recht anschauliche Darstellung der Hoffmannschen Betätigung in Warschau – die einzige Quelle der Warschauer Periode in seinen Biographien – sei eine kompilierte Paraphrase des von ihm vernichteten Tagebuchs, ist wahrscheinlich schon zu weitgehend. Aber nicht zu weitgehend scheint die Vermutung, dass es in Warschau zwar nicht unbedingt eine Mascha aber durchaus eine anonym gebliebene polnische Freundin Hoffmanns gegeben habe, der er beim Verlassen der Stadt die Partitur und Stimmen des Singspiels die lustigen musikanten anvertraute. Sechs Jahre nach Hoffmanns Tod erhielt Hitzig nämlich in Berlin die Sendung einer namentlich nicht genannten Freundin Hoffmanns aus Warschau, die das gesamte Material der später auch von Hoffmann als Oper bezeichneten Komposition enthielt. Hitzig konnte es unverzüglich dem Königlichen Schauspielhaus zu Berlin zukommen lassen. Und dort erhoffte man sich von dem zur Oper avancierten Singspiel, dass sie den sensationellen Erfolg der Undine wiederholen und deren jähes Ende durch den Theaterbrand vom 29. Juli 1817 wettmachen könnte. Frau Hoffmann erhielt sogar, gegen alle Regeln des Hauses, ein Honorar in Höhe von 50 statt der ursprünglich angebotenen 30 Reichstaler. (Hoffmanns Schulden bei dem wohlbekannten Weinhaus hätte sie damit allerdings nicht begleichen können, diese beliefen sich auf über 1000 Reichstaler, wurden aber großzügigerweise vom dem Haus selbst getilgt. Hoffmann erhielt dadurch eine Art postumes PR-Honorar.) Doch zur Berliner Premiere der Warschauer Oper kam es nicht. Plötzlich schickte man Hitzig die Partitur zurück. Es ist mehr als wahrscheinlich, dass hier der verlängerte Arm des Polizeidirektors von Kamptz die Finger im Spiel hatte, der Hoffmann seine Karikierung als Knarrpanti im Meister Floh nicht verzeihen konnte, von Kamptz, der ihn in den Tod gehetzt hatte und auch nach dem Tod weiter verfolgte. Die Partitur tauchte nach langem Verschollensein schließlich 1887 in der Pariser Bibliotheque du Conservatoire auf und ist heute im Besitz der Bibliotheque Nationale.

Das wäre der äußere Rahmen der wahren Geschichte. Doch die Fakten sind ohne eine entsprechende Deutung farblos oder wie Hoffmann es im Plocker Tagebuch formulierte »dürre und öde wie der Weg von Posen nach Berlin«. Es fragt sich nämlich, weshalb Hoffmann, der die Partitur lieber nicht auf eben diesen Weg nehmen wollte und sie stattdessen der geheimnisvollen Dame anvertraute, an seinen Glogauer Freund Johannes Hampe am 2. April 1809 schrieb:

»Ich bin überzeugt, dass die Oper von Brentano die lustigen musikanten recht sehr Ihren Beifall haben würde, wenigstens urtheilten die Kenner in Warschau recht günstig davon. Ich datiere von dieser Komposition meine bessere Periode, und es ist mir nun nicht ganz recht, dass ich auch nicht ein Blatt mehr davon besitze, sondern dass von Partitur und Partien höchst wahrscheinlich polnische oder französische Patronen gemacht worden sind, und ich glaube dass in dieser Form meine Musik von grossem Effekt gewesen sein, und so zu sagen drastisch auf die Zuhörer gewirkt haben wird.«

Mir geht es hier natürlich nicht um das Aufdecken unbekannter oder das Komplettieren Hoffmannscher Seitensprünge. Der Autor des meisters flohs hat übrigens etwaigen diesbezüglichen Vorwürfen vorgreifend als eine Art Gesamtalibi eine äußerst präzise Formel für den Zusammenhang von zumindest virtuellem Seitensprung und literarischer Produktion geliefert: In dem Berlin-Text die geheimnisse können wir sie nachlesen:

»Errötend musste Hfff. sich selbst gestehen, dass er von jeher in jedes weibliche Wesen, mit dem er in solchen geistigen Umgang geraten, verliebter gewesen als recht und billig, ja, das dieses unbillige Verliebtsein immer höher gestiegen, je länger er das Bild der Schönsten in Herz und Sinnen getragen, und je mehr er sich bemüht, dieses Bild mittels der besten Worte, der elegantesten Konstruktionen, wie nur die deutsche Sprache darbietet, in das rege Leben treten zu lassen. Vorzüglich in Träumen fühlt Hff. sich sehr von dieser verliebten Komplexion ergriffen und die eigentliche Seladonsnatur, die er dann annimmt, entschädigt ihn reichlich für den gänzlichen Mangel an liebeschmachtenden, idyllischen Situationen, den er schon seit geraumer Zeit im wirklichen Leben verspürt hat. Eine Frau mag es aber wohl gleichgültig ansehen, wie ein geistiges weibliches Wesen nach dem anderen, in das der schrifstellerische Gemahl verliebt gewesen, geschrieben, gedruckt und denn mit behaglicher Beruhigung gestellt wird in den Bücherschrank.«

Fragt sich und diese Frage wurde in der Forschung meines Wissens noch nie gestellt, in welcher Weise das Warschauer Opfer der platonischen Erotomanie Hoffmanns nun verbucht wurde – gemäß dem in den geheimnissen preisgegebenen »Verfahren«. Vielleicht hat es in diesem Fall aber auch gar nicht zu einem Buch gereicht. Für mich ist dagegen ein mit Polen und seiner Geschichte verklammerter Text Hoffmanns Indiz genug, der allerdings kaum Beachtung fand in der Germanistik, der deutschen wie der polnischen, obwohl er ein wirklich phantastisches Beobachtungsfeld liefert für den Sonderfall Hoffmann, der wie kaum ein anderer deutscher Autor von Weltrang die polnische Seele entschlüsselte und zugleich verschlüsselte, knackte und in Kleist verpackte. Ich meine das Nachtstück das gelübde, von dem immer wieder nur betont wird, dass er zur Kleistschen marquise von o. in intertextueller Beziehung stehe. Ich behaupte, dass er nur aufgrund einer falschen Lesart mit inadäquatem und unzureichendem Instrumentarium unter den literaturwissenschaftlichen Seziertisch fiel. Ein Autor, der wie Hoffmann so viele technische Erfindungen, tiefenpsychologische und kunstphilosophische Entdeckungen vorweggenommen hat, kann auch literarische Techniken vor-geschrieben haben. Und ich sehe in diesem Text nicht nur eine Nach-Schrift Kleists sondern ein Vor-Schreiben Gombrowiczs. Oder noch paradoxer – man kann Hoffmanns gelübde lesen als vordatierte Gombrowicz-Parodie. In Gombrowiczs, uns aus dem tagebuch geläufigen Terminologie gesagt: Hoffmann demonstriert geradezu auf der Kleistschen Folie, wie die nationale Form der Polen bis ins Unbewusste vordringt, wie Trieb und Form ihre Plätze wechseln, wie paradox und irrational eine Polin unter dem Druck dieser nationalen Form in extreme Nöte gerät, sie, die die irrationale Vaterlandsliebe über die Geschlechtsliebe stellte und letztendlich zu deren Sklavin und Opfer wird.

Das Unheimliche des Patriotismus, und ganz speziell und spezifisch des polnischen Hyperpatriotismus, der sich bis in die entferntesten Gehirnwindungen und intimsten Körperfasern (hier bis in die Gebärmutter!) fortpflanzt und dort sein ideologisches Unwesen treibt und Triebverwirrung stiftet, wird hier regelrecht durchleuchtet. Hitzig, der sich stets um Hoffmanns und vor allem Mischas Reputation bemühte, berichtete, Hoffmann habe hier eine Erzählung seiner Ehefrau aus ihrer Posener Heimat einfach nacherzählt. Ich möchte das anzweifeln, und sei es in Form der nicht sonderlich gewagten Mutmaßung, dass eben jene geheimnisvolle Warschauer Unbekannte der Heldin von gelübde Modell gestanden hat, sie oder eine andere oder mehrere.

Hoffmann unterstellte seiner realen Warschauer Vertrauten in seiner ironischen Manier, dass sie in ihrem Freiheitselan einen derartigen Gebrauch von seiner Partitur gemacht hat. Das würde auch sehr gut zur Heldin des gelübdes passen. Im übrigen erinnert mich diese Voraussicht, was aus einem Manuskript gemacht werden könnte, an Hoffmanns Empfehlung in seinem Brief an August von Kotzebue, man möge doch bei Nichtgefallen sein zu einem Berliner Komödienwettbewerb aus Plock eingesandtes Stück der preis anderweitig verwenden:

»Solle das ganze Werk für einen Schreibfehler geachtet werden so widmet es der Verfasser demjenigen aus dem Aeropag, der Locken oder gelocktes Haar trägt – es ist schönes weiches Papier.«
(Zitiert aus dem Brief aus Plock vom 22. September 1803).

Doch zurück zum gelübde und seiner hypothetischen realen Heldin. Findet man doch ausgerechnet in dieser großen Karikatur der irrationalen polnischen Freiheitsliebe eine sehr kompetent und unironisch klingende Würdigung der polnischen Frauen:

»Man sagt den polnischen Frauen nach, daß ein eignes launisches Wesen sie auszeichne. Tiefes Gefühl, sich hingebender Leichtsinn, stoische Selbstverleugnung, glühende Leidenschaft, todstarre Kälte, alles das, wie es bunt gemischt in ihrem Gemüte liegt, erzeugt das wunderliche unstete Treiben auf der Oberfläche, das dem Spiel gleicht der in stetem Wechsel fortplätschernden Wellen des im tiefsten Grunde bewegten Bachs.«

Wenn die geheimnisvolle Unbekannte aus Warschau Hoffmann zu diesem Einblick verholfen hat, so täuschte er sich in der Einschätzung der Natur der Polinnen wahrlich und entgegen der eigenen Befürchtung nicht. Partitur und Stimmen der lustigen musikanten wurden nicht in Patronen umgemünzt, weder in polnische noch in französische, was zu dieser Zeit keinen großen Unterschied gemacht hätte. Die Polen trugen damals sehr unterschiedliche fremde Uniformen ohne aufzuhören, vor allem Polen zu sein. Hoffmann ging der Freudensschrei eines aus dem Kerker entlassenen polnischen Offiziers in russischer Uniform unter die Haut, den er als junger Mann in Glogau gehört hatte: »Je suis libre!« Und dieser Ruf mochte auch später seine geheime Antriebsfeder gewesen sein, als er in Berlin die politischen Gefangenen des preußischen Königsreichs aus den Gefängnissen der Restauration herausschleuste.

Zu guter Letzt möchte ich noch ein Geständnis machen: Ich habe – unbewusst – gemogelt. Es gibt in Warschau nämlich keine Kreuzung, an der sich die beiden anfangs genannten Straßen treffen, nämlich die Jerusalemer Allee und die Heiligkreuzstrasse. Ich habe Hoffmann zuliebe einen etwas verzerrten Stadtplan von Warschau gezeichnet, eine Achsenverdrehung vorgenommen in der Stadt, die für mich mit einem großen H als drittem Buchstaben geschrieben wird.

Wahrschau wem, könnte man kalauern …

Die Schwarze-Loch-Befindlichkeit von Warschau hat es mit sich gebracht, dass im Falle Hoffmann und nicht nur in diesem einen neben so vielen anderen die Phantastik des Realen und die Phantastik des Imaginären, die Quasi-Fakten und die Quasi-Fiktionen sich in einem heillosen Durchwachsensein und einer schier unentwirrbaren Verknotung präsentieren, wovon ich Ihnen nur einen ganz kleinen und – der Materie entsprechend – recht chaotischen Einblick zu geben versuchte, der jedoch, wie ich hoffe, die schwarze Lochmauer an ein paar Stellen durchbrochen hat.

© 2008 Peter (Piotr) Lachmann
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E. T. A. Hoffmann im schwarzen Loch von Warschau
Mystifikationen und Mutmaßungen | Vortrag mit Peter Lachmann