Am Donnerstag, dem 23. Juni 2011 fand in der Vertretung des Freistaates Sachsen beim Bund in Berlin eine Veranstaltung über die Geschichte des nordöstlichen Teils der historischen Provinz Ostpreußen statt. Sie gehörte zu der Reihe Vergessene Regionen, in der das Deutsche Kulturforum östliches Europa in lockerer Folge Gebiete im östlichen Europa vorstellt, die entweder schon immer im Windschatten des Weltgeschehens lagen oder die aufgrund der politischen Entwicklung der letzten hundert Jahre aus dem Bewusstsein einer großen Öffentlichkeit verschwunden sind. Das Interesse und die Neugier an dieses Themen, bei denen es oft Neues zu entdecken gibt, ist groß und auch an diesem Abend war trotz schlechtem Wetter der Saal voll. Die Region, um die es an diesem Abend ging, wurde wegen des hohen Anteils der Litauer an der Bevölkerung auch Kleinlitauen genannt. Allgemein bekannter ist der Teil des Gebietes nordöstlich der Memel, das Memelland.
Nach der Begrüßung durch Frau Dr. Kretschmer als Vertreterin des Freistaats Sachsen und Dr. Doris Lemmermeier, Direktorin des Deutschen Kulturforums östliches Europa, verlas Dr. Ruth Leiserowitz, stellvertretende Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, das Grußwort S.E. des litauischen Botschafters. Dieser stellte die Bedeutung Kleinlitauens »als die Wiege der litauischen Literalität« heraus. »Hier wurde zum ersten Mal die Bibel ins Litauische übersetzt und die erste Grammatik der litauischen Sprache verfasst« In Kleinlitauen schrieb schließlich Kristijonas Donelaitis (1714–1780) das Poem Die Jahreszeiten, das erste Werk litauischer Literatur.
In der ersten Hälfte des Abends stellten drei Vorträge verschiedene Aspekte der Geschichte und Kulturgeschichte der Region vor. In ihrer historischen Einführung skizzierte Dr. Ruth Leiserowitz die besondere Situation des nordöstlichen Teils von Ostpreußen, der überwiegend zweisprachig (deutsch und litauisch) war. Die Region wurde im Ersten Weltkrieg stark in Mitleidenschaft gezogen und Hunderte von Zivilisten ins Innere Russlands und nach Sibirien verschleppt. Das Gebiet nordöstlich der Memel kam nach dem Krieg zunächst unter französischer Verwaltung und wurde 1920 von Litauen besetzt. Damals entstand auch erstmals der Begriff »Memelland«. In der Zwischenkriegszeit ließen sich viele Juden aus Litauen hier nieder, die dann nach der Besetzung der Deutschen 1939 nach Litauen flüchteten. Ende des Zweiten Weltkriegs verhinderten die von der Wehrmacht gesprengten Brücken über die Memel die Flucht der Deutschen nach Westen. Das Memelland war nicht Gegenstand der Potsdamer Konferenz und hier fand auch keine Vertreibung der Deutschen statt. Frau Dr. Leiserowitz ging auch auf das Weiterleben von Traditionen nach 1945 ein.
Dr. Silva Pocytė
Dr. Silva Pocytė stellte die Identität der Kleinlitauer nach 1871 innerhalb des Deutschen Reiches und nach 1923 innerhalb des neu gegründeten Nationalstaates Litauen vor. Die Kleinlitauer, evangelisch und loyal gegenüber dem deutschen Kaiser, fühlten sich nach der Reichsgründung als ethnische Minderheit diskriminiert. In der Zwischenkriegszeit bewirkte die unterschiedliche religiöse und kulturelle Prägung – hier protestantisch deutsch, dort katholisch polnisch bzw. russisch – Schwierigkeiten zwischen Klein- und Großlitauern. Die Kleinlitauer standen zwischen den Deutschen und den Großlitauern.
Eva Pluhařová-Grigienė
Der Vortrag von Eva Pluhařová-Grigienė M.A. befasste sich mit fotografischen Illustrationen von deutsch- und litauischsprachigen Büchern über die Kurische Nehrung vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die 1930er Jahre. Während die deutschen Illustrationen Distanz zu den als fremdartig und exotisch empfundenen Bewohnern der Nehrung zeigen, obgleich das Fremde als besonderer Reiz der Region empfunden wurde, versuchten die Litauer sie als Teil ihres Landes darzustellen. Die Instrumentalisierung solcher bildlicher Darstellungen zur Vermittlung politischer Vorstellungen bzw. Ansprüche fand vor allem nach dem Ersten Weltkrieg statt, als das Gebiet von Litauen besetzt war.
Im zweiten Teil des Abends standen die Auswirkungen der Politik im 20. Jahrhundert auf das Leben einzelner Menschen und deren Schicksale im deutsch-litauischen Grenzgebiet im Zentrum. Der Film Gustav J. von Volker Koepp aus dem Jahre 1973 porträtierte den 80jährigen, im Grenzland zu Litauen geborenen Gustav J. Er ist ein sehr frühes Beispiel für die Methode der oral history zur Vermittlung historischer Zusammenhänge für ein großes Publikum. Das Schicksal von Gustav J. – Ortswechsel wegen Arbeitssuche, Verschleppung nach Russland im Ersten Weltkrieg und Flucht nach Westen nach dem Zweiten Weltkrieg – ist typisch für das vieler Menschen seiner Generation aus Kleinlitauen.
Dr. Ruth Leiserowitz (links) und Ulla Lachauer
In einem Gespräch stellten anschließend Dr. Ruth Leiserowitz und Ulla Lachauer weitere Biographien aus der Zwischenkriegszeit und der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor, darunter auch die der Bäuerin Lena Grigoleit, die Ulla Lachauer in ihrem Buch Paradiesstraße beschrieben hat. Im Unterschied zu ihr, die trotz hartem Leben mit ihrem Schicksal zufrieden war und viel zu erzählen wusste, haben die Lebensumstände die Moorbäuerin Erdmute Gerollis unfähig zu einer Kommunikation gemacht. Anhand von Fotografien familiärer Ereignisse in der Nachkriegszeit, die sie und Dr. Silva Pocytė in einem Forschungsprojekt gesammelt haben, erklärte Dr. Ruth Leiserowitz u.a. die Bedeutung kirchlicher Trauungen in einem atheistischen Staat. Die vom Pietismus geprägte religiöse Laienbewegung im Memelland hatte nach dem Zweiten Weltkrieg große Bedeutung für die Identität der Memelländer/Kleinlitauer. Die Teilnahme an einem Gottesdienst in einer Kirche konnte gerade für in der Verwaltung tätigen Menschen oder Lehrer problematisch sein. Die Gottesdienste der Stundenhalter (Laienprediger), die im Freien oder auch auf Friedhöfen stattfanden, zogen keine Konsequenzen staatlicherseits nach sich.
alle Fotos auf dieser Seite: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, A. Werner
Vergessene Regionen: Das Memelland
Kulturelle Vielfalt in einer Grenzregion • Ein Thementag mit Vorträgen, Film und Podiumsgespräch am 23. Juni 2011 in der Vertretung des Freistaates Sachsen beim Bund