Tschechen und Sudetendeutsche lebten jahrhundertelang als Nachbarn friedlich zusammen. Doch die deutsche Gewaltherrschaft, der Zweite Weltkrieg und die Vertreibung – auf Tschechisch Odsun – zerstörten die Welt, wie sie sie kannten, für immer. Tschechen und Deutsche schauen nun erstmals gemeinsam zurück: Wie steht es um die Versöhnung? Wie normal kann das Verhältnis zwischen den europäischen Nachbarn angesichts der Geschichte sein? Die zweiteilige Dokumentation versucht eine gemeinsame Aufarbeitung im Sinne einer europäischen Erinnerungskultur.
Der erste Teil schaut aus der Gegenwart zurück auf die Vertreibung nach 1945 und ihre Vorgeschichte, die nationalsozialistische Gewaltherrschaft in der Tschechoslowakei. Verlassene Orte wie Königsmühle im Erzgebirge sind zu einem Symbol für diese Geschichte geworden. Unmittelbar nach Kriegsende wurden alle 53 Einwohner von Königsmühle vertrieben. Rosemarie Ernst, vermutlich die letzte in Königsmühle geborene Deutsche, berichtet davon und von dem Trauma, das die monatelange Odyssee nach Deutschland bei ihr und vielen der Vertriebenen hinterließ. Heute lebt Rosemarie Ernst in Oberwiesenthal, in Sichtweite zu ihrem Heimatort Königsmühle. Junge Tschechen und Deutsche arbeiten gemeinsam daran, Königsmühle zu erhalten, als Denkmal, aber auch als Ort, an dem man gemeinsam feiern kann – jedes Jahr im August findet das von Petr Mikšíček gegründete Landart-Festival statt. Mikšíček entdeckte bei seinen Wanderungen durch die Sudeten den Ort, und seitdem lässt den Fotografen und Naturfreund diese »untergegangene Zivilisation« nicht mehr los. »Wir wissen von den sagenumwobenen Inkas und Mayas«, sagt er, »aber wir haben das hier auch – 70 Kilometer entfernt von Prag.«
Der zweite Teil schlägt einen Bogen von den sogenannten wilden Vertreibungen unmittelbar nach Kriegsende bis ins Heute. Die Schriftstellerin Katerina Tučková hat sich in ihrem Roman Gerta mit dem Todesmarsch von Brünn beschäftigt. Am 1. Juni 1945 wurden dabei 27.000 deutschsprachige Einwohner aus der Stadt getrieben. Bis heute ist nicht geklärt, wie viele Menschen diesen mehr als 50 Kilometer langen Fußmarsch nicht überlebt haben. Leo Zahel ist einer dieser Überlebenden. Der heute in Wien lebende Zahel erinnert sich an den Marsch, aber auch daran, dass die Stadt Brünn/Brno sich 2015 bei allen Opfern dieser Jahre entschuldigt hat, auch bei den Deutschen. Das Thema Vertreibung ist dennoch bis heute nicht abgeschlossen, nicht vollständig aufgearbeitet. Fast alle Zeitzeugen wünschen sich eine Versöhnung von Tschechen und Deutschen, ganz erreicht ist sie noch nicht. Petr Mikšíček sagt: »Es ist nicht so, dass alles rosig wäre. Wir müssen stärker sein als die Stimmen aus dem Grab, die dagegen kämpfen, was wir an Orten wie Königsmühle machen.«
Zweiteiliger Film von Matthias Schmidt und Vit Poláček, Teil 1 und 2, 2020, ca. 90 Min.
Vertreibung Odsun – Die Geschichte der Sudetendeutschen
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