Das Deutscheste an dieser Stadt sind ihre Dackel. Sie trotten durch die Fußgängerzonen und Gassen der Altstadt, bellen in den Hinterhöfen und wachen hinter Haustüren. Wie Stella, eine schwarze Kurzhaardackel-Dame, die die Besucher des »Kuda« schwanzwedelnd empfängt. Das »Kuda«, ein alternatives Kulturzentrum für neue Medien, liegt in einem unscheinbaren Dreigeschosser in einem Wohngebiet im Nordwesten der Stadt. An diesem Abend zeigt dort die zur deutschen Minderheit gehörende Filmemacherin Éva Hübsch ihren Film Spiel des Schicksals; es gibt Fleischbällchen und Teigtaschen. Während die Besucher dem Lebensweg dreier donau-schwäbischer Frauen folgen, schleicht Stella durch die Reihen und klaut Brocken von Papptellern, die die Besucher unbedacht unter die Stühle gestellt haben. Um das Jahr 1900 galten Dackel als Sinnbild des »gemütlichen Deutschen«. 120 Jahre später scheinen sie das Einzige zu sein, was vom deutschen Erbe in Neusatz geblieben ist.
Eine Stadt, viele Namen
Neusatz ist eine kompakte Stadt, die sich selbst auf kurzen Dackelbeinen leicht erlaufen lässt. Mit rund 250 000 Einwohnern ist sie nach Belgrad die zweitgrößte Stadt Serbiens. Sie liegt im Norden in der Wojwodina – und hat wie diese eine wechselvolle Geschichte hinter sich: Die hoch über der Donau, damals im Königreich Ungarn gelegene Festung Peterwardein lockte bereits Ende des 17. Jahrhunderts Handwerker und Kaufleute an, die sich am gegenüberliegenden Ufer niederließen. 1748 verlieh die Herrscherin Maria Theresia der Ansiedlung das Stadtrecht und den lateinischen Namen Neoplanta; jede Ethnie, die hier lebte, sollte ihn in ihre eigene Sprache übersetzen. So nannten die Serben sie fortan Novi Sad, die Ungarn Újvidék und die Bulgaren Mlada Loza. Die deutschen Siedler, die auf Anwerben Maria Theresias ab dem 18. Jahrhundert in die Wojwodina gekommen waren, gaben ihr den Namen Neusatz.
170 Jahre lang war die Stadt Teil des Habsburgerreiches und geprägt von einer plurikulturellen Gesellschaft. Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten hier fast eine halbe Million Deutsche. Schwaben wurden sie ursprünglich genannt, einem Stereotyp jener Zeit folgend. Heute leben nur noch viertausend in ganz Serbien, rund 3 700 davon in der Wojwodina.
Eine von ihnen ist Marijana Vukobratović-Stojisavljević. Sie wurde 1993 in Sombor unweit der Grenze zu Ungarn und Kroatien geboren. Dort ist sie im Deutschen Humanitären Verein St. Gerhard tätig, erzählt sie am Rande der Filmvorführung. Ziel dieses Vereins ist es, die donau-schwäbische Kultur zu erhalten. Viele Jugendliche müssten die deutsche Sprache erst wieder erlernen, da sie zu Hause kaum noch gesprochen werde, sagt Vukobratović-Stojisavljević: »Viele wissen gar nicht, dass sie eine donauschwäbische Identität haben.«
Andrej Tišma vor der Plakette, die an seinen Vater Aleksandar erinnert. © Boris Radivojkov
Die meisten Kinder stammen aus ungarisch-deutschen Familien. Serbisch-deutsche Familien seien sehr selten. Das liege daran, dass es mit den Ungarn größere kulturelle und konfessionelle Überschneidungen gebe als mit den Serben, sagt Éva Hübsch. Es hat aber auch noch einen weiteren, historischen Grund: Im Frühjahr 1941 überfielen deutsche und ungarische Truppen Jugoslawien und zerschlugen es. Aus der deutschen Minderheit wurden »Volksdeutsche«. Teile der Wojwodina sowie Serbiens kamen unter ihre Verwaltung. Vielerorts wurde der Einmarsch deutscher Truppen »begeistert aufgenommen«, schreiben Gerhard Seewann und Michael Portmann in ihrem 2018 erschienenen Buch Die Donauschwaben. Deutsche Siedler in Südosteuropa. Bis April 1942 schlossen sich 13 000 Freiwillige der Wehrmacht und Waffen-SS an.
Im Januar 1942 verübte die mit dem nationalsozialistischen Deutschland verbündete ungarische Armee ein Massaker an vor allem serbischen und jüdischen Zivilisten. Die Soldaten drängten mehr als 1 200 Menschen ans Ufer der zugefrorenen Donau, erschossen sie und stießen sie unters Eis. Noch im Sommer 1942 sollen Leichen am Donaustrand angeschwemmt worden sein. Mit dem Sieg der Alliierten und der jugoslawischen Partisanen flohen die meisten verbliebenen Deutschen aus der Region. Über die Ursachen für Flucht und Vertreibung spreche man bis heute nicht viel, sagt Regisseurin Hübsch.
Im sozialistischen Jugoslawien war Deutsch weitgehend verpönt, während Ungarisch als Sprache anerkannt blieb. In serbischen Schulen sei die knapp dreihundertjährige deutsche Kulturgeschichte der Region kaum Thema, sagt Vukobratović-Stojisavljević. »Dort wird nur gelehrt, dass die Deutschen hierherkamen, um Krieg zu führen.« Kindern mit deutschen Namen wurde in der Schule gesagt, ihre Eltern sollten diesen ändern, weil sich Umlaute in kyrillischer Schrift so schlecht schreiben ließen.
Auch wenn das Deutsche kaum mehr in den Gassen zu vernehmen ist, sehen viele darin eine Chance auf eine bessere Zukunft. »Viele junge Menschen lernen heute Deutsch, um in Deutschland einen Job finden zu können«, sagt Vukobratović-Stojisavljević. Deutsch bietet eine Gelegenheit zu gehen, aber keine mehr, um zu bleiben.
Zwischen Kulturen und Kriegen
Zwei Dinge haben Neusatz geprägt: die Angehörigen unterschiedlicher Kulturen, die hier siedelten, und die Kriege, die die Stadt heimsuchten. Wer heute durch die Straßen schlendert, findet von beidem kaum noch Spuren. Die Donaubrücken, die infolge des Kosovokrieges 1999 von der Nato bombardiert wurden, sind längst wieder aufgebaut.
Anstelle des zerstörten Rundfunkgebäudes hoch über der Donau ist ein vierzig Millionen Euro teurer Neubau aus Beton und Glas entstanden, der die Ruinen verdeckt. Auch wenn auf den Straßen heute fast ausschließlich Serbisch zu hören ist, betont die Stadt gern ihre multiethnische Vergangenheit und ihr Image als Kulturstandort. Darauf berufen sich die Offiziellen des Kulturhauptstadt-Komitees. Offen über die Geschichte sprechen wollen aber auch sie nicht. Das geht sogar so weit, dass sie den berühmtesten Sohn der Stadt unerwähnt lassen. Die ulica Modene in der Innenstadt hatte im Laufe der vergangenen hundert Jahre viele Namen, je nachdem, wer gerade an der Macht war. Nach dem Einmarsch der ungarischen Armee hieß sie »Miklós-Horthy-Allee«, benannt nach dem ungarischen Reichsverweser. Nach dem Krieg war sie zunächst die »Allee der Roten Armee«, bis sie in »Marschall-Tito-Allee« umbenannt wurde und zu guter Letzt wieder ihren ursprünglichen Namen erhielt.Die Uliza Modene mit dem ockerfarbenen Haus, in dem einst der jüdisch-serbische Schriftsteller Aleksandar Tišma lebte. © Boris RadivojkovDas ockerfarbene Gebäude mit der Hausnummer 1, in den dreißiger Jahren im Bauhaus-Stil errichtet, ist weithin sichtbar. Einer seiner früheren Bewohner beschrieb es einst so: »Mit seiner abgerundeten Ecke, die in den Hauptplatz ragt wie der Bug eines Ozeandampfers, mit der Fassade, die sich längs dem breiten und geraden Alten Boulevard zur imposanten Höhe von vier Stockwerken erhebt, mit der etwas zurückversetzten, einem Schiffsdeck ähnlichen Mansarde« dränge es sich »der Stadt als unumstrittener Mittelpunkt auf.« So beginnt Das Buch Blam des Schriftstellers Aleksandar Tišma. Von 1969 bis zu seinem Tod mit 79 Jahren im Jahre 2003 lebte der jüdisch-serbische Schriftsteller hier. Tišma hat nie einen Hehl daraus gemacht, was er von Neusatz und dessen Bewohnern hielt: Sie sei eine »sehr gewöhnliche, ordinäre und unangenehme Stadt«, sagte er 1995 in einer TV-Doku dem deutschen Journalisten Wolfgang Behrens. Er selbst kenne nur einige Dutzend Menschen in der Stadt, denen er »Guten Tag« sage: »Die Leute interessieren mich nur als Material, als Stoff, als Figuren, die ich beschreiben könnte.« Er klang dabei nicht einmal gehässig, sondern geradezu charmant.
An jenem Haus, in dem er die längste Zeit seines Lebens wohnte, hängt heute eine Plakette. Ein paar Gehminuten Richtung Norden trägt eine Straße seinen Namen. Doch im Programm des Kulturhauptstadtjahres kommt der berühmte Schriftsteller nicht vor. Das ist in etwa so, als würde Halle an der Saale Georg Friedrich Händel verneinen, Bochum Herbert Grönemeyer verschweigen oder Frankfurt an der Oder Heinrich von Kleist leugnen.
Wenn man sich jedoch nicht nur anhört, was Tišma zu Lebzeiten über seine Stadt sagte, sondern auch liest, worüber er schrieb, so verwundert es weniger, dass die Kulturmanager ihn heute missachten. Denn Tišmas Werk ist eine Zumutung: Er war Augenzeuge des Massakers 1942 und floh vor den Nazis; später beschrieb er die Gräueltaten des Holocaust und des Zweiten Weltkrieges ebenso wie das Ende der multikulturellen Stadtgesellschaft von Neusatz. Und wie die Menschen danach weiterlebten. Er schrieb über das Scheitern, das Schinden, das Sterben. Bei ihm ist niemand Täter oder Opfer, sondern alle nur Verlierer. Ein Happy-End gibt es nicht. Weder im Buch noch im Leben. Die Gewalt, sagte Tišma 1995, höre niemals auf. Sie gehe immer weiter. Er selbst hatte für sich die Lehre gezogen: »Ich bin kein Kämpfer, deswegen bin ich Fatalist.«
Tišma hat sein letztes Buch 1991 veröffentlicht. Im Dokumentarfilm besucht er eine Buchhandlung, in der jedoch kein einziges seiner Werke zu finden war. Danach gefragt, antwortet er mit einem Lächeln: »Ich bin schon ein bisschen aus der Mode.«
Ein oft gehörter Schlager
Daran hat sich auch mehr als ein Vierteljahrhundert später nichts geändert. An einem lauen Herbstabend 2021 sitzt Andrej Tišma vor einem anderen Buchladen im Stadtzentrum von Neusatz. Auf der Straße dröhnen Nobelkarossen und Motorräder vorbei. Das Elegante seines Vaters fehlt ihm. Er hat die Aura eines Parkplatzwächters. Andrej Tišma, geboren 1952, ist Aktionskünstler und eine Art Nachlassverwalter seines Vaters. Seine Erklärung, warum dieser heute in seiner Heimatstadt weitgehend in Vergessenheit geraten ist, ist simpel und zugleich treffend: »Sein Werk ist deprimierend, es ist nicht amüsant zu lesen.«
Kein Wunder also, dass einer wie er in dieser Stadt, in der das Verdrängen allgegenwärtig ist, störend wirkt. Im Ausland, vor allem in Deutschland, sei sein Vater berühmter als in seiner Heimat. »Wir müssen Aleksandar Tišma wieder von Europa zurück nach Novi Sad holen«, sagt sein Sohn. Einer, dem Aleksandar Tišma zu Lebzeiten nicht nur »Guten Tag« gewünscht hat, ist der Schriftsteller László Végel, ein kleiner, eckiger Mann mit Schnurrbart. Er entstammt der ungarischen Minderheit in der Wojwodina. Sein erstes episches Werk 1967 wurde von Tišma ins Serbische übersetzt. »Seit seinem Tod fühle ich mich sehr einsam in dieser Stadt«, sagt Végel.
Über das Kulturhauptstadtjahr macht er sich keine Illusionen: »Es wird lustig vor sich hingefeiert, aber die Geschichte vergessen«, sagt Végel, »es ist wie eine fröhliche Apokalypse.« Nur in den Dörfern ringsum kämen die Menschen noch zusammen. »In Novi Sad lebt jede Ethnie in ihrem eigenen Ghetto.« Die Erzählung von der Vielvölkerstadt wird seiner Meinung nach von den Veranstaltern nur benutzt, »weil sie glauben, dass wir erwarten, dass sie das sagen«, meint er. »Der Multikulturalismus ist wie ein alter Schlager, der immer wieder angestimmt wird.«
Vielleicht hilft dieser Schlager aber auch, um überhaupt weiterleben zu können. Den Anschein hat es zumindest, wenn man Sladjana Velendečić zuhört. Die Frau mit den feuerroten Haaren sowie topasblauen Augen ist die Pressesprecherin des Museums der Wojwodina und auch Stadtführerin. Sie kennt die Sehenswürdigkeiten, die Geheimtipps, die keine mehr sind, und auch die blinden Flecken der Geschichte. Wenn sie über das allgemeine Verdrängen redet, spricht sie leise und macht ein Gesicht, als müsse sie unschöne, schmerzhafte Wahrheiten aussprechen: »Wir kehren Sachen gerne unter den Teppich«, sagt sie, »deswegen machen wir historisch immer wieder die gleichen Fehler, weil wir nie mit einer Sache abschließen.« Doch es sei auch der Versuch, mit einem Leben zurechtzukommen, in dem es so viele Brüche gegeben habe und alle paar Jahre ein neuer Krieg ausbrach. »Wir sind Überlebende«, sagt sie unumwunden.
»Wenn wir nur fünf Euro hätten und das Ende des Monats wäre noch fern, dann würden wir uns dennoch in ein Lokal setzen und einen Kaffee trinken. Denn wir wissen, wir werden überleben.« Dann geht sie weiter. Zur nächsten Attraktion. Etwas abseits davon läuft ein Dackel durch die Fußgängerzone, ohne Leine. Immer wieder entfernt er sich einige Meter von seinem menschlichen Begleiter und verharrt schnüffelnd. An einem Beet bleibt er stehen und fängt an, mit seinen Vorderpfoten die Erde aufzuwühlen. Nicht allzu tief, nur wenige Zentimeter, dann steckt er seine Nase in den Boden, um abrupt aufzuhören und seinem Begleiter zu folgen. Zurück bleiben nur ein paar frische Spuren an der Oberfläche. Wer nicht hinsieht, bemerkt sie nicht.