von Vytenė Stašaitytė
Als Ende des 19. Jahrhunderts die litauische Schriftsprache im russischen Kaiserreich verboten wurde, schmuggelten die »Knygnešiai« Bücher über die preußisch-russische Grenze.
»Für den Schnaps bekommst du einen Tritt in den Hintern. Und für die Bücher eine Reise nach Sibirien. Oder eine Kugel.« Dieses Zitat aus dem litauischen Film Knygnešys (dt. »Bücherschmuggler«, 2011) verdeutlicht die Gefahr, der sich Litauer im 19. Jahrhundert vier Jahrzehnte lang aussetzten: Im Kampf für ihre Schrift und Sprache schmuggelten sie litauischsprachige Bücher aus Ostpreußen nach Litauen, das unter russischer Kaiserherrschaft stand.
Dreieinhalb Millionen Schriften haben die rund dreitausend Bücherschmuggler zwischen 1866 und 1904 über die preußisch-russische Grenze geschleust. Gedruckt wurden die Bücher und Presseerzeugnisse ganz legal in Preußisch-Litauen bzw. <small> Foto: © Auksė Bruverienė <s/mall>Kleinlitauen, wie der nördliche Teil Ostpreußens genannt wird. Im damals vom zaristischen Russland unterdrückten Großlitauen waren die Werke illegal – und dennoch heiß begehrt. Und so organisierte sich hier ein Schmuggelgeschäft. Auf Litauisch nennt man diese idealistischen Schmuggler »Bücherträger« und nimmt so der damals eigentlich kriminellen Tat ihre negative Konnotation. Die »Bücherträger« werden bis heute als Volkshelden im Kampf für die Presse- und Meinungsfreiheit verehrt. Und der 7. Mai, der Tag, als im Jahre 1904 das Verbot aufgehoben wurde, wird im seit 1990 wieder freien Litauen als Tag der Pressefreiheit gefeiert. Eine weitere bedeutende Auszeichnung folgte im Jahr 2004: Genau hundert Jahre nach Ende des Verbots erkannte die UNESCO die Bewegung der Bücherträger als weltweit einmalig an.
»Die Regierung des Zaren hat nach 40 Jahren eingesehen, dass sie machtlos ist gegen die illegale Verbreitung der litauischen Schrift. Eine höhere Anerkennung der Bücherschmuggler kann es doch gar nicht geben,« sagt Kazys Misius, Publizist und Autor mehrerer Bücher zum Thema. Er weist auf die Bedeutung der Bücherschmuggler auch für die Unabhängigkeit Litauens 1918 hin. Denn der Kampf um die »litauische Schrift« – gemeint ist Litauisch in lateinischer statt kyrillischer Schreibweise – wurde zum Existenzkampf für das litauische Volk und seinen katholischen Glauben.
Rache für den Januaraufstand
Zurück zum Ursprung: Warum wurde die »litauische Schrift« überhaupt verboten? Nachdem der russische Kaiser den im Jahr 1863 von Litauern und Polen gegen die Herrschaft Russlands gerichteten Januaraufstand brutal niedergeschlagen hatte, verschärfte er als Folge die Russifizierung: Zuerst wurde die lateinische Schrift verboten, 1865 folgte ein Verbot von Büchern in litauischer Sprache und ihres Drucks ebenso wie ein Verbot der Einfuhr jeglicher solcher Druckerzeugnisse aus dem Ausland.
Der Bischof von Samogitien/Žemaitija, Motiejus Valančius, fand jedoch eine Lösung: Die Bücher sollten im Ausland gedruckt und dann illegal in den Rest des Landes, nach Großlitauen, gebracht und dort verbreitet werden. Für diese Idee und sein folgendes Engagement wird er bis heute im unabhängigen Litauen hoch verehrt – mit Denkmälern, in Museen und auf dem Zwei-Litas-Geldschein, der seit 1993 in Umlauf war. Sein Name taucht auch auf dem Monument in Litauens zweitgrößter Stadt Kaunas auf, das hundert Bücherträgern gewidmet ist, die am meisten geopfert haben und leiden mussten.
Auf Bücher stand Sibirien
Auf das gedruckte Wort standen weitaus höhere Strafen als auf den Schmuggel anderer illegaler Dinge. Wurde man mit Alkohol oder Tabak erwischt, wurde die illegale Ware konfisziert und man erhielt eine Geldstrafe. Für verbotene Zeitungen und Bücher hingegen gab es Gefängnisstrafen und bis zu zehn Jahre Zwangsarbeit in Sibirien, die sogenannte »Katorga«.
Mit welchen Risiken der Weg über die grüne Grenze verbunden war, lässt sich auch im kürzlich erschienenen fünften Band der Zeitzeugen-Erinnerungen »Bücherträger V«, an dem Kazys Misius mitgearbeitet hat, nachlesen. »Es gab dort drei Linien von Wächtern«, sagt Misius. »Trotzdem haben es schlaue Bücherträger geschafft, mit ihren großen Paketen geistergleich die Grenze zu überqueren. Allerdings nicht immer. Einmal erwischten die Wächter Juozas Baranauskas. Sie erschossen sein Pferd und konfiszierten Bücher im Wert von 500 Rubel. Wie durch ein Wunder konnte er selbst jedoch fliehen.«
Andere hatten dieses Glück nicht, so kam es durchaus auch zu Todesopfern an der Grenze – erschossen wegen ein paar Kilo bedruckten Papiers. Wer das Risiko auf sich nahm, kannte sich meist in den Wäldern im Grenzgebiet mit all seinen Schleichwegen aus. Normalerweise schleppte ein Schmuggler ein etwa 30 Kilogramm schweres Paket, oft bewegten sie sich in Gruppen von etwa 15 Personen. Auch die offiziellen Grenzübergänge wurden genutzt – die Bücher versteckt in doppelten Böden, Särgen, Heu oder zwischen anderen Gegenständen und Waren und unter Kleidern. Und wie immer beim Schmuggel war auch die Bestechung von Grenzbeamten eine übliche Taktik.
Den Großteil der Schmuggler bildeten Bauern, es waren aber auch Priester, Ärzte, Lehrer, Handwerker, Arbeiter und Beamte unter ihnen. Vereinzelt waren auch Frauen eingebunden. Der berühmteste Bücherschmuggler war Jurgis Bielinis. Er wurde schon zu Lebzeiten von seinen Kollegen »König der Bücherschmuggler« genannt und sein Geburtstag, der 16. März, wird heute in Litauen als »Tag der Bücherträger« gefeiert.
Auf seinen Kopf hatte die brutale russische Regierung 300 Rubel Kopfgeld ausgesetzt. Der Arme musste sich wie irgendein gemeiner Verbrecher verstecken, er traute sich nicht mal, seine Familie und seinen Bauernhof zu besuchen. Es war hart, aber er gab nicht auf, litt und arbeitete schwer und wiederholte immer wieder sein Mantra: »Wir müssen niemanden fürchten und dürfen nichts schonen – nicht unser Vermögen, nicht unseren Schweiß, nicht unser Blut. Lasst uns arbeiten und unser Vaterland Litauen wieder auferstehen«, schreibt die Zeitzeugin Liudvika Didžiulienė.
Genau wie Bielinis arbeitete die Mehrheit der Bücherschmuggler nicht aus finanziellen Erwägungen, sondern aus einer inneren Überzeugung heraus. »Ich habe keine Kenntnisse über Bücherschmuggler, die mit diesem ‚Beruf’ reich geworden sind, aber Hunderte haben finanzielle Verluste auf sich genommen, ihre Gesundheit geopfert und einen Teil ihres Lebens in Sibirien verbringen müssen«, betont Kazys Misius.
»Wandelnde Bücherhallen« in Kneipen
Wichtige Voraussetzungen für den erfolgreichen Schmuggel und das Verbreiten der Schriften waren neben der allgemeinen antirussischen Stimmung vor allem eine gute Organisation und Logistik. Diese lag oft in den Händen von Geistlichen. Bei der geheimen Lagerung der verbotenen Presse erhielten sie Unterstützung von adligen Familien wie den Didžiuliai, Petkevičiai, Putvinskiai, und sie konnten ebenfalls auf den Rückhalt der einfachen Bauern an der Grenze zählen.
Das Verbreitungsnetzwerk ging in alle Richtungen bis nach Wilna/Vilnius, Riga und Garten/Hrodna. Die beliebtesten Treffpunkte zur Übergabe und Verteilung der Presse waren Kneipen und ausgewählte Bauernhöfe. »Es war üblich, dass wir die Presse in einem hinteren Raum der Kneipe des Hotels ‚Palermo‘ in Marijampolė verteilten. Ich hatte die Presse unter meinem Unterhemd, an der Hose befestigt. An diesen Tagen war ich eine wandelnde Bücherkammer», schreibt Bauer Vincas Šlekys in einer seiner Erinnerungen.
Ein anderer erzählt von einer besonders tapferen Frau: »An Sonntagen verkaufte sie religiösen Krimskrams an der Kirche. Vor ihr lagen ein paar Rosenkränze, aber heimlich verkaufte sie litauische Bücher. Sie hatte ein schlaues Versteck – an ihrem Unterrock hingen mehrere Stoffbeutel voller Bücher. Den Unterrock faltete sie dann […] zur Taille, zog sich einen dicken Mantel über und tat einfach ganz unschuldig.«
Lukratives Geschäft für die Preußen
Auf das heimliche, illegale Drucken im Lande wurde bewusst verzichtet. Dies geschah ganz legal im Ausland, am häufigsten in Preußisch-Litauen. Hier war eine große litauische Minderheit zu Hause. Heute erstreckt sich dieses Territorium über Teile Litauens, Polens und der russischen Exklave Kaliningrad. Während der Preußenzeit wurde hier neben dem offiziellen Deutsch auch viel Litauisch gesprochen, auch wenn dies oft als Sprache der Bürger zweiter Klasse galt. Für die Unternehmer und Druckereien nahe der Grenze erwies sich der Schmuggel als Goldgrube. Innerhalb der vierzig Jahre des Verbotes wurden dort etwa dreieinhalb Millionen Bücher gedruckt – darunter etwa eine halbe Million Schulbücher und 75000 Zeitungen. Die größte Anzahl litauischer Bücher – etwa 500 Titel – hat Otto von Mauderode hergestellt. An ihn erinnern sich viele Bücherschmuggler. So auch der Bauer und Bücherträger Juozas Rimša: »Mauderode hatte viel zu tun, er kam kaum mit dem Drucken hinterher. In kurzer Zeit wurde er reich und wohnte bald nicht mehr in einem alten Holzhaus, sondern ließ sich 1898 ein großes Ziegelsteinhaus bauen und neue Druck-Dampf-Maschinen in der Druckerei einrichten.«
Der Kampf für das litauische Wort wurde in Kleinlitauen geduldet, aber das bedeutete noch lange nicht, dass er nicht auch hier auf Hindernisse stieß. Historiker bestätigen, dass die preußische Regierung eine Annäherung von Klein- und Großlitauen für gefährlich hielt. Zwar fühlte sich die Mehrheit der Bücherschmuggler in Kleinlitauen sicher, die Autoren der litauischen Presse, die aus Litauen geflohen waren, mussten sich jedoch verstecken und einige wurden an Russland ausgeliefert.
Im Zuge der Reichsgründung von 1871 verschärfte sich die Situation, da Preußen seine Haltung seinen nichtdeutschen Volksgruppen gegenüber änderte. So wurde beispielsweise der Schulunterricht in litauischer Sprache abgeschafft. Der Bitte des russischen Generalgouverneurs im selben Jahr, das Verlegen litauischer Schriften in Preußen zu verbieten, wurde jedoch nicht entsprochen. Und so liefen die Druckereien in Preußen weiter legal und auf Hochtouren.
Denkmäler, Kostümführungen und Laser-Tag
Die Deutschen druckten die Bücher, die Litauer brachten sie über die Grenze. »Hier verbindet sich die Geschichte zweier Länder. Ein uns verbindendes Phänomen – der heilige Schmuggel – das Einschleusen der Bücher, das letztendlich das litauische Volk vereinigte«, sagt Arvydas Griškus, der Leiter des »Kulturzentrums von Kleinlitauen« in Jurbarkas. Das Kulturzentrum hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Identität der Region am Leben zu erhalten. Sie bietet in der Kleinstadt Schmalleningken/Smalininkai, dem ehemaligen Grenzpunkt zwischen Groß- und Klein-Litauen, eine Führung für Touristen unter dem Titel »Smalininkai – der ewige Grenzpunkt« an. Die Besucher treffen verkleidete Protagonisten aus verschiedenen Zeiten, erleben eine Passkontrolle, stoßen auf Gendarmen und lernen einiges über die Bücherträger.
»Unsere ‚Grenzbeamten‘ nehmen die Touristen manchmal fest und fesseln sogar ihre Hände. Es gab schon ausländische Gäste, die unsere ‚Passkontrolle‘ und Durchsuchungen ernst genommen und es mit der Angst zu tun bekommen haben«, erzählt die Stadtführerin Gina Meškauskienė.
Auch in Kaunas, der zweitgrößten Stadt Litauens, trifft man auf die Geschichte der Bücherträger – neben den klassischen Denkmälern auch auf eine ganz andere Art. Das Unternehmen »Karingas« bietet ein sogenanntes Lasertag-Spiel unter dem Motto »Bücherträger und Gendarm«. Bei diesem Parcours steht sportlicher Ehrgeiz im Vordergrund. Die Hauptklientel sind dabei Schülergruppen. »Es ist ein etwas anderer Unterricht, der einen etwas trockenen historischen Stoff besser im Gedächtnis verankern soll«, erzählt Geschäftsführer Vytautas Vyzas. »Zuerst vermitteln wir den Schülern wichtige Informationen, dann teilen wir sie in zwei Gruppen ein: ‚Bücherträger‘ gegen ‚Gendarmerie‘.« Aber anders als in der historischen Realität dürfen die spielerischen Bücherträger »zurückschießen«. »Es ist eben immer noch ein Lasertag-Spiel«, sagt Vyzas. Jede Woche kommen Schülergruppen aus ganz Litauen und die Gewinner des Laserspiels erhalten einen Preis, den sie dann gewiss zu schätzen wissen: ein Buch in litauischer Sprache.