Goldingen/Kuldīga ist eine Hansestadt, war immer wieder mal Filmkulisse und gehört seit 2023 zum UNESCO-Welterbe. Sie ist eine Stadt, die ihre deutschbaltische Vergangenheit nicht übermalt. In einer kommunalen Werkstatt restaurieren Bürger selbst, geführt von Fachleuten mit Geduld und Prinzipien. Denn es zählt nicht, wie ein Fenster aussieht – sondern, was es erzählt. Denkmalpflege ist mehr als eine Expertenaufgabe, sondern Teil des städtischen Alltags.
Kulturkorrespondenz östliches Europa, № 1447 | Drittes Quartal 2025
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Luftbildaufnahme von Goldingen/Kuldīga

Holzsplitter fliegen umher, Späne rieseln zu Boden, es riecht nach Leim, nach jahrzehntealtem Lack, nach frischem Schleifstaub. Im Hintergrund brummen Maschinen, Werkzeuge klappern, Stimmen murmeln. Kārlis Heniņš hält mit konzentriertem Blick das Fensterrahmenprofil mit der linken Hand fest, während die rechte den Holzhammer auf das Stemmeisen schlägt. Zentimeter für Zentimeter wird so vorsichtig der alte Lack entfernt. An der anderen Seite des Werktisches steht Marta und schleift den vom Lack befreiten Fensterrahmen mit Schmirgelpapier glatt.

Es geht nicht nur um saubere Arbeit, sondern um präzises, ja sogar geschichtsbewusstes Handwerk. »Man könnte Fenster mit Maschinen viel schneller restaurieren – aber dann ist es nicht mehr so wie früher. Man muss einfach wissen, wie ein Fenster gemacht wird.« Während Heniņš das nächste Fensterprofil vorbereitet, beugt sich Marta neugierig über seine Schulter. Er legt die Werkzeuge beiseite, erklärt ruhig jeden seiner Handgriffe und zeigt nochmal mit dem Schleifpapier, wie die Kante im richtigen Winkel bearbeitet wird. Geduld gehört ebenso zu seiner Arbeit wie Präzision.

Es ist ein gewöhnlicher Vormittag im Restaurācijas centrs, dem Restaurierungszentrum von Goldingen/Kuldīga. Ein Ort, an dem Handwerk, Denkmalpflege und bürgerschaftliches Engagement aufeinandertreffen. »Bei uns arbeiten alte und junge Leute zusammen. Ich helfe und motiviere und fühle mich oft wie ein Lehrer«, sagt der 25-Jährige. Die Werkstatt in der Altstadt ist nämlich nicht nur Arbeitsplatz, sondern auch Lernraum: für Profis wie Kārlis Heniņš, aber auch für Verwaltungsmitarbeiterinnen wie Marta, die hier zum ersten Mal mit Hobel und Schmirgelpapier in Berührung kommen. Für Marta ist es der erste Tag in der Werkstatt. »Es ist hart, keine Frage. Aber irgendwie auch entspannend. Sonst ist mein Kopf immer voll mit Zahlen und Plänen«, sagt sie und schaut auf den frisch geschliffenen Fensterrahmen. Drei Stunden habe sie heute schon in der Werkstatt gearbeitet – »für den Anfang reicht das«, lacht sie.

Eigentlich sitzt die Mittzwanzigerin im Stadtplanungsamt von Goldingen. Doch hier, im Restaurierungszentrum, tauscht sie für einen Vormittag den Schreibtisch gegen die Hobelbank ein. Es ist Teil eines stadtweiten Projekts, bei dem auch Verwaltungsmitarbeitende selbst Hand anlegen sollen an den alten Fenstern der eigenen Büros, erzählt sie. »Es geht nicht nur darum, öffentliches Geld einzusparen, sondern auch ums Verstehen. Wenn man selbst mal an einem alten Fenster arbeitet, dann begreift man erst, wie aufwändig die Arbeit der Restauratoren ist.« Das Restaurācijas centrs ist ein wichtiges Projekt kommunaler Denkmalkultur. Die Stadt gründete es 2008 mit klaren Zielen, die historische Bausubstanz zu sichern, handwerkliches Wissen zu bewahren und an die nächste Generation weiterzugeben, zählt Ilze Zariņa auf, die das Zentrum seit 2010 leitet.

Alle Bewohner der Altstadt können ihre historischen Fenster und Türen hierherbringen und von Fachleuten angeleitet bei der Instandsetzung mitarbeiten. Rund dreißig Goldinger Familien nehmen pro Jahr teil. Manche schleifen Fensterflügel, andere ölen Türrahmen oder lernen, wie man ein beschädigtes Holzprofil millimetergenau ersetzt. Dass es das Zentrum überhaupt gibt, liegt insbesondere auch an einer strengen Vorschrift, die sich die Stadt gegeben hat: In der Altstadt sind Kunststoff- oder Aluminiumfenster verboten. Wer also saniert, muss es auf die alte Art tun – mit Holz, Öl und Respekt vor dem Bestand. Hier wird Wert auf Authentizität gelegt.

Wer mitmacht, bekommt Werkzeug, Material und fachliche Anleitung – kostenlos, aber nicht unverbindlich. Denn mit der Teilnahme wird eine Vereinbarung getroffen, ihre begonnenen Arbeiten in einem bestimmten Zeitrahmen auch fertigzustellen. »Uns geht es nicht nur ums Reparieren«, sagt Kulturmanagerin Zariņa. »Jede Schicht, jede Kerbe, jedes abgegriffene Stück Holz erzählt eine Geschichte. Wir reißen das nicht einfach raus – wir arbeiten damit.«

Dass dabei nicht alles glatt, sauber und wie neu aussehen muss, ist Teil des Konzepts. Im Gegenteil: Unebenheiten, Farbschichten, abgenutzte Kanten – all das ist willkommen. Die Werkstatt begegnet den gealterten Materialien mit Respekt. »Wenn man durch Kuldīga geht, sind Fassaden mit Patina zu sehen. Manche sagen dann: Die Leute sind wohl zu arm, um zu streichen«, hat die 52-Jährige beobachtet. »Aber das stimmt nicht. Diese Oberflächen sind gewollt. Sie sind authentisch – und genau das macht ihren Wert aus.«

Eine Haltung, die nicht nur lokal geschätzt wird, sondern auch Modell für ganz Lettland ist, wo auch in anderen Kommunen solche Werkstätten gegründet werden. Sogar auf internationaler Bühne gab es dafür Anerkennung, als im September 2023 die Altstadt von Goldingen in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen wurde. Ausschlaggebend dafür war nicht etwa ein einzelnes Bauwerk wie eines der vielen kurländischen Herrenhäuser oder eine besondere Kirche, sondern das Gesamtensemble. Ein seit mehreren Jahrhunderten fast vollständig erhaltenes Stadtbild mit engen Gassen, Ziegeldächern und hölzernen Haustüren. Goldingen, so heißt es in der Begründung der UNESCO, sei ein »herausragendes Beispiel für eine Kleinstadt, die ihre historische Struktur und ihr architektonisches Erbe bewahrt hat.« Ein Erbe, das mannigfaltige deutschbaltische Spuren hat.

Für die Kulturmanagerin Zariņa ist das eine Bestätigung der jahrelangen und erfolgreichen Arbeit ihres Restaurierungszentrums. Denn der Erhalt der Altstadt sei kein Zufall, sondern Ergebnis bewusster Entscheidungen, weiß sie. »Wir entfernen die alte Farbe nicht, wenn sie nicht abblättert. Wir erhalten so viel wie möglich«, sagt Zariņa. »Das lässt sich erfühlen, sogar mit geschlossenen Augen. Selbst blinde Menschen können so die Geschichte eines Hauses begreifen.«

Eine Geschichte, die vielschichtig und zutiefst europäisch ist. Der livländische Landmeister des Deutschen Ordens errichtete 1242 nach einem Kriegszug gegen die Kuren an den Stromschnellen der Windau/Venta eine Burg, welche erst Jesusburg und später Goldingen hieß. Ab 1355 hatte die Siedlung Stadtrechte und wurde 1368 sogar als Mitglied der Hanse geführt. Mit der Gründung des Herzogtums Kurland und Semgallen 1561 unterstand es als Lehen der polnischen Krone. Goldingen wurde eine der Residenzen des Herzogs Gotthard Kettler, des letzten Landmeisters des Deutschen Ordens in Livland und des ersten Herzogs von Kurland und Semgallen. Als nach seinem Tod das Herzogtum 1595 unter seinen Söhnen Wilhelm und Friedrich in das westliche Kurland und das östliche Semgallen geteilt wurde, war Goldingen zeitweise sogar die Hauptstadt Kurlands.

Das ist lange her. Heute leben gut 10 000 Einwohner in Goldingen und wer heute durch die kopfsteingepflasterten Straßen schlendert, spürt: Das kulturelle Erbe ist keineswegs nur museale Kulisse, vielmehr ein lebendiger Teil des heutigen Alltags. Für die Journalistin Krista Jansone macht das genau die Stadt aus. »Goldingen ist kein Disneyland. Hier wird nicht künstlich auf alt gemacht. Hier lebt die Geschichte weiter – in den Häusern, in den Menschen, im Rhythmus der Stadt.« Jansone ist in der Region aufgewachsen, hat später viele Jahre in Riga und Brüssel gearbeitet und entschied sich, wieder zurückzukehren. Den Eintrag auf die Welterbeliste sieht sie als Chance, aber auch als Herausforderung: »Die UNESCO-Auszeichnung ist mehr als nur Werbung, um Touristen anzulocken. Sie bringt auch eine Verantwortung.«

Begeistert ist Jansone von dem Restaurierungszentrum, das sich in den Alltag der Stadt eingeschrieben hat. Es sei ein praktischer Ort und ein kultureller Resonanzraum, glaubt sie. »Manchmal genügt ein Fenster, um eine ganze Geschichte zu erzählen«, sagt Jansone. »Und manchmal ist ein Kratzer wichtiger als ein frischer Anstrich.« Wie viel so ein Fenster erzählen kann, weiß auch Eigars Celms. Der 43-Jährige zog mit seiner Familie vor wenigen Jahren aus Lettlands Hauptstadt Riga in die Provinz nach Goldingen. Er sehnte sich nach einem ruhigeren Leben, mehr Nähe zur Natur und mehr Eigenverantwortung. Das Haus, das sie fanden, gehört der Stadt, war alt und in einem desolaten Zustand, erinnert er sich. »Es hatte wohl innen gebrannt, manche Fenster fehlten komplett. Einige Rahmen waren gar keine richtigen Fenster mehr, nur noch Splitter.« Und doch entschieden sie sich für das Gebäude.

Mithilfe des Restaurierungszentrums setzte Celms die Fenster Stück für Stück instand. Außen bekam er Material und Anleitung gestellt, innen arbeitete er auf eigene Faust weiter. Denn als Teil des Mietvertrags muss er das Gebäude renovieren und kann dafür vergünstigt wohnen. »Am Anfang hatte ich keine Ahnung«, sagt der Familienvater. »Aber im Restaurationszentrum wurde mir gezeigt, wie es geht. Und irgendwann merkst du: Du kannst das. Mit deinen eigenen Händen.« Handarbeit ist für Celms Alltag. Zusammen mit seiner Frau Vika betreibt er eine kleine Bäckerei mit Café in der Altstadt, nur wenige Schritte entfernt von den Fenstern, die er selbst wieder einsetzte. Celms Maize nennt sich der Laden, »Celms Brot«.

Für den Bäcker ist Goldigen ein Ort mit Seele und keineswegs ein geschöntes Freilichtmuseum, auch wenn die pittoreske Altstadt in zahlreichen Filmen als Kulisse diente, den deutschen Zuschauern dürfte Die Brücke von 2008 bekannt vorkommen. Für Celms ist Goldingen auch ein Ort, der sich nicht leicht vereinnahmen lässt. »Ich glaube, man muss Kuldīga fühlen. Nicht jeder versteht es sofort«, sagt er. Wer bleibe, merke irgendwann: Hier tickt vieles anders.

Auch was den Umgang mit der sonst in Lettland unliebsamen Sowjetzeit betrifft, geht Goldingen einen anderen Weg. Die sowjetischen Umbauten und Erweiterungen werden als Teil der Stadtgeschichte respektiert. »Wenn eine Konstruktion solide ist, entfernen wir sie nicht, nur weil sie aus einer ungeliebten Epoche stammt«, erläutert Zariņa. Auch diese Epoche habe Spuren hinterlassen, die sichtbar bleiben sollten. So spiegele sich die komplizierte Geschichte der Stadt wider.

In Goldingen hört der Denkmalschutz nicht an den Fassaden auf. Auch die historische Dachsilhouette mit roten Ziegeln steht unter besonderem Schutz, erklärt die Leiterin des Restaurierungszentrums Zariņa. So sei es nicht erlaubt, in der Altstadt Dachflächenfenster einzubauen. »Wer auf den Kirchturm steigt, soll keine reflektierenden Glasflächen sehen«, betont Zariņa. Auch bei der Energieeffizienz historischer Häuser verfolgt die Stadt einen pragmatischen Ansatz. Man setze auf traditionelle Techniken: »Historische Holzfenster, die mit Leinölkitt gut instandgesetzt sind, schließen überraschend dicht«, sagt Zariņa. »Der Wärmeverlust erfolgt hauptsächlich über Dächer und Decken, nicht über Fenster.« Die Empfehlung sei daher, vor allem Dächer und Decken zu isolieren.

In der Werkstatt des Restaurierungszentrums ist inzwischen Feierabend. Kārlis Heniņš räumt die Werkzeuge an ihren Platz und erzählt dabei, der Reiz seiner Arbeit liege darin, jeden Tag etwas Neues zu entdecken. »Mich interessiert immer das ganze Gebäude«, sagt er. »Ich habe schon in vielen historischen Gebäuden gearbeitet und es ist spannend zu sehen, was ein Haus alles erzählen kann.« Auch Celms' Bäckerei hat am Abend geschlossen. Morgen früh, kurz nach Sonnenaufgang, werden hier wieder Brote gebacken, während nur ein paar Straßen weiter im Restaurierungszentrum erneut die Werkzeuge klappern. »Die Aufgabe wird niemals erledigt sein. Aber genau das hält Goldingen lebendig«, sagt die Leiterin des Restaurationszentrums Zariņa.

Fotos und Text: Markus Nowak