Stipendium mit Weitblick: Die Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber des Kulturforums und die Vielfalt des östlichen Europa Jedes Jahr entsendet das Deutsche Kulturforum östliches Europa eine Autorin oder einen Autor in eine Stadt in Mittel- und Osteuropa, die unter anderem durch deutsche Kultur und Geschichte geprägt ist. Sie sollen dort mit der Gesellschaft in einen Dialog treten, der dazu beiträgt, Grenzen zu überwinden. Ziel des Stipendiums ist es, die Erlebnisse und Begegnungen in Geschichten zu fassen, die Bestand haben – ob digital oder analog erzählt. Von Markus Nowak.
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Seien es die markanten Marktplätze, umgeben von Kopfsteinpflasterstraßen, an denen sich Menschen aus allen Teilen Europas seit Jahrhunderten zum Handel, Austausch und Feiern getroffen haben, bedeutende Gotteshäuser unterschiedlicher Konfessionen, deren Türme die Silhouetten der Altstädte prägen, oder die prachtvollen Bürgerhäuser mit ihren reich verzierten Fassaden, die die wirtschaftliche und auch die gesellschaftliche Bedeutung der aufstrebenden Bürgerschichten widerspiegeln – Breslau/Wrocław, Kaschau/Košice und Lemberg/Lwiw weisen in ihrer urbanen DNA viele Ähnlichkeiten auf. Diese Ähnlichkeiten wurzeln tief in einer Geschichte, in der über Jahrhunderte hinweg verschiedene Sprachgruppen – neben der deutschen die polnische, ungarische, armenische, slowakische, ukrainische und auch Jüdinnen und Juden – einander begegneten und wechselseitig beeinflussten. Eine weitere Gemeinsamkeit: Genau diese stadtgeschichtliche DNA und die darin verwobenen Spuren deutscher Kulturgeschichte inspirieren Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber des Kulturforums. 

»Ich wollte diesen Vibe der Stadt spüren und den Spuren des Historischen im Heute nachgehen«, sagt Marko Martin. Der Schriftsteller, Essayist und Literaturkritiker ist für seine literarischen Reiseberichte, Essays und kulturpolitischen Analysen bekannt. Ihn schickte das Kulturforum 2016 nach Breslau. Der »aufmerksame Flaneur«, als den sich der heute 54-Jährige sah, verbrachte fünf Monate in der Odermetropole. »Die Stadt hat mich sofort angefixt. In dieser Atmosphäre und mit der vielschichtigen Geschichte Breslaus, in der die deutsche Vergangenheit und die polnische Gegenwart ineinandergreifen, wurde das Stipendium für Martin zu einer besonderen Zeit. »Es war ein ganz wichtiger Auslandsaufenthalt in meinem Leben und er hatte auch hohen publizistisch-literarischen Wert für mich.«

Breslau trug 2016 den Titel der Kulturhauptstadt Europas, ähnlich wie Kaschau schon drei Jahre zuvor. Hierher schickte das Kulturforum 2013 Kristina Klasen (damals Forbat) als Stadtschreiberin. Die selbständige Autorin und Regisseurin fand in diesen fünf Monaten ein inspirierendes Umfeld. »Es war ein Abenteuer, das ich spannend fand, in einer Kulturhauptstadt zu leben und zu arbeiten, weil gerade in dieser Zeit auch unglaublich viel passierte«, sagt die 38-Jährige heute zurückblickend. Sie sah ihre Aufgabe vor allem darin, unter Menschen zu gehen und neue Themen aufzuspüren. 

Begegnungen, Blogs und bewegte Bilder

Als »Abenteuer« bezeichnet auch Barbara Thériault ihre Zeit in Lemberg. Die kanadische Soziologin verbrachte 2018 ihre Stipendienzeit in der polyglotten galizischen Metropole. »Da war so ein interessantes Klima, intellektuell«, sagt Thériault heute. »Ich fand es anregend.« Die heute 52-Jährige konnte das Stipendium in Lemberg mit ihren wissenschaftlichen Studien verzahnen: Sie ist Professorin für Soziologie an der Universität Montréal. »Die Stadtschreiberei macht das, was ich unter Soziologie verstehe«, sagt sie. »Das passt gut zusammen.« 

Thériaults soziologischer Ansatz habe viel mit Beobachtungen in Städten zu tun. »Was ich mache, ist qualitative Soziologie und das ist für Menschen zugänglich, weil es mit dem Alltag verbunden ist«, sagt sie. »Und ich schreibe kurze Texte darüber, ich nenne sie ›soziologische Feuilletons‹.« Diese publizierte sie regelmäßig auf dem Blog, den das Kulturforum für seine Stipendiatinnen und Stipendiaten jährlich neu einrichtet und der sich jeweils bis heute abrufen lässt. Er ist auch Jahre später eine gute Quelle, um die Zeit in den quirligen Städten und die »Abenteuer« der Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber nachzuempfinden. Neben den deutschen Originaltexten stehen dort auch ihre Übersetzungen in die jeweiligen Landessprachen der Orte, in die die Stipendien vergeben werden.

Auch Kristina Klasen hat in ihrer Zeit viel gebloggt. »Ich hatte so einen inneren Motor, immer etwas zu veröffentlichen und habe sehr viel publiziert«, sagt sie heute. Aber sie habe »eine totale Freiheit empfunden, machen zu können, was ich da will.« Neben Beschreibungen und auch Lyrik hinterlassen die Stadtschreiber und Stadtschreiberinnen viele Fotogeschichten und auch Filmclips auf den Blogs. 

»Ich habe versucht, die verschiedenen Kulturen abzudecken – die ungarische, die slowakische, die karpatendeutsche und auch die jüdische Kultur der Stadt.«
Der Blick auf das kulturelle Erbe war dabei zentral: »Die Sinne sind geschärft, weil man permanent etwas festhalten möchte.« Diese Wahrnehmung sei bereichernd, aber auch fordernd gewesen: »Ich fand alles total spannend und erzählenswert. Es war eine intensive und beruflich wegweisende Zeit«, resümiert sie.
Ihr Tatendrang zahlte sich aus: Klasen konnte im Zuge des Stipendiums ihr Erstlingswerk, einen 52-minütigen Dokumentarfilm produzieren. Rückkehr in die windige Stadt ist sein Titel und das Wort »Rückkehr« impliziert, dass Klasen – anders als andere Stadtschreiberinnen in ihren Residenzorten – nicht zum ersten Mal in der ostslowakischen Metropole war. Denn sie stammt aus Kaschau und verließ die Slowakei kurz vor der politischen Wende 1989. Familiäre Gründe waren auch eine Motivation für ihre Bewerbung, sagt sie. 

Klasen setzte sich auch zum Ziel, die Geschichte ihrer jüdischen Großmutter journalistisch in dieser Zeit zu beleuchten. So verknüpfte sie ihre persönliche Familiengeschichte mit der Auseinandersetzung um Erinnerungskultur, die Schoa und die historische Aufarbeitung der Vergangenheit. Themen, die sie auch heute journalistisch weiterverfolgt. »Sich mit Menschen einer anderen Kultur auszutauschen, macht ja persönlich etwas mit einem, egal in welche Region der Welt man geschickt wird«, glaubt Klasen. Das trage dazu bei, eine höhere Sensibilität für kulturelle Eigenarten zu entwickeln sowie ein Bewusstsein dafür zu schaffen, »was da um uns herum passiert«. 

Tatsächlich will das von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien dotierte Stipendium »an herausragenden Orten des östlichen Europa […] für gegenseitiges Verständnis werben und den interkulturellen Dialog fördern«, wie das Kulturforum die Zielsetzung umreißt. Marko Martin versuchte den Dialog ganz konkret auch im Nachtleben der Odermetropole zu finden. »Ich ging stundenlang einfach durch die Stadt und abends, wenn man in Clubs Menschen trifft, dann kommen sie ins Erzählen«, beschreibt der Publizist. Darunter waren etwa in Brandenburg tätige Spargelstecher oder Mitarbeiter von deutschen Großküchen, die vom antipolnischen Rassismus in Deutschland berichteten. »Das hat mich sehr bewegt«, sagt er über die persönlichen Begegnungen und den Austausch über Lebensrealitäten. Geht es nach Martin, schaffen solche Begegnungen und das Schreiben darüber eine andere Wahrnehmung, »wenn man begreift, dass da andere Länder zwischen Deutschland und Russland liegen und sie nicht wie im Hitler-Stalin-Pakt irgendeine Verfügungsmasse sind«. Martins Breslau-Aufenthalt fiel in eine politisch unruhige Zeit. In Warschau hatte zuvor die nationalkonservative PiS-Regierung die Macht übernommen und versuchte, auch auf die Breslauer Theater Einfluss auszuüben. Martin, der mittendrin in den Protestaktionen der Kulturschaffenden war, schrieb kritisch auf seinem Blog darüber und sagt: »Ich fand es ermutigend, wie die polnische Zivilgesellschaft ihr Widerstands-Gen aktivierte.«

Die Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber des Kulturforums stehen an der Schnittstelle von Vergangenheit und Gegenwart. Sie sind mehr als Chronistinnen und Chronisten der Geschichte, die sich in Städten wie Breslau, Kaschau oder Lemberg in Architektur, Kultur und Gedenkorten zeigt. Sie sensibilisieren darüber hinaus für aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklungen.

Einblicke in die sozialen Gewohnheiten der Stadt

Auch Barbara Thériault erlebte 2018 – also vier Jahre nach dem Maidan – eine Umbruchstimmung in der Ukraine. »Es war wie in den frühen 1990er Jahren in Ostdeutschland, gepaart mit Erinnerungen aus meiner Kindheit und an die damals herrschenden nationalistischen Strömungen«, beschreibt sie. »Das war interessant, und auch irritierend.« Die Kanadierin beobachtete als Stadtschreiberin, dass Lemberg ein Sehnsuchtsort für Polen und Deutsche war. Sie versuchte, »darauf zu schauen, wie die Lemberger als Menschen sind«. Sie konzentrierte sich auf Details im Alltagsleben. So schrieb sie über Männerhandtaschen, Straßenkehrer, Hochzeitskleider auf einer Hauptstraße, Nagelstudios, aber auch Dichter an der Front. Solche Beobachtungen seien es, die Einblicke in die sozialen Gewohnheiten schaffen, betont Thériault.
In ihren beiden 2024 auf Deutsch erschienenen Büchern Die Bodenständigen: Erkundungen aus der nüchternen Mitte der Gesellschaft und Abenteuer einer linkshändigen Friseurin greift Thériault unter anderem auf ihre beobachtenden Methoden und die soziologischen Feuilletons, die sie schon in Lemberg verfasste, zurück.
Ihr Fazit zum Stadtschreiberinnen-Stipendium: »Es war wie eine Forschungsförderung, um etwas zu machen, das den Rahmen des Üblichen sprengte.« Zudem verlieh ihr das Stipendium eine Art Legitimation für ihre Nachfragen: »Als Soziologin muss ich immer Klinken putzen. Das ist recht anstrengend. In Lemberg konnte ich sagen: Ich bin die Stadtschreiberin.« 

Marko Martin formuliert es so: »Das Stipendium gab mir die idealen Bedingungen für meine Arbeit. Und das Salär, sodass ich Speis und Trank hatte.« Obwohl die Summe nicht groß ist, sei eben auch das nicht unwesentlich, weiß Martin. »Es braucht ja einen Rahmen, innerhalb dessen man dann agiert, beobachtet, liest und schreibt. Ich muss sagen, dieser Rahmen war für mich perfekt.«