Bei der Gründung des Sportvereins Górnik mit Sitz in Hindenburg/Zabrze ist in gewissem Sinne etwas schief gegangen. Nicht im sportlichen Bereich – das auf keinen Fall. Die Kicker aus der oberschlesischen Industriegroßstadt gewannen schließlich 14 Mal den Titel des Landesmeisters, was Górnik zu einer der Top-Marken im polnischen Fußball macht. Aber anders, als es die Initiatoren beabsichtigten, ist der Verein, der 1948 aus dem Zusammenschluss von vier kleineren Klubs hervorgegangen war, nie zu einer Visitenkarte des Sozialismus geworden. Auch eignete er sich nicht so richtig als Argument für den angeblich unbestreitbar polnischen Charakter Oberschlesiens. Von Dawid Smolorz
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Lukas Podolski wird von Górnik-Fans nach der Unterzeichnung seines Vertrags im Juli 2021 begrüßt. © Archiv Górnik Zabrze

Das Wort górnik steht im Polnischen für »Bergmann«. Offiziell sollte der »Bergmannsklub« ein Markenzeichen des sozialistischen Polen sein. Hinter der offiziellen Fassade aber blieb der Sportklub über Jahrzehnte von der für die Region so typischen Koexistenz unterschiedlicher Identitäten geprägt. Er war ein Spiegelbild der Bevölkerung, in der es Menschen gab, die sich als Polen oder als Deutsche fühlten, aber auch solche, die sich mit keinem dieser beiden Völker identifizierten oder mit beiden gleichzeitig. In Hindenburg hätte das wohl nicht anders kommen können. Denn als einzige Großstadt in dem bis 1945 zu Deutschland gehörenden Teil der Region erlebte sie nach der Übernahme durch die polnische Verwaltung keinen massiven Bevölkerungsaustausch. Fast 75 Prozent der meist zweisprachigen Einwohner blieben von der Vertreibung verschont, da dies aus unterschiedlichen Gründen im Interesse der neuen Machthaber lag. Zum einen sicherten sie sich so einen ungestörten Weiterbetrieb von Berg- und Hüttenwerken. Zum anderen stärkte jeder mit der polnischen Staatsangehörigkeit beschenkte Oberschlesier international den Anspruch Warschaus auf die bisherigen deutschen Ostprovinzen. Bis zur Massenauswanderung in den späten 1980er Jahren war Hindenburg deshalb trotz der offiziell gepredigten nationalen Homogenität eine Stadt, die nicht nur eine deutsche Vergangenheit hatte, sondern teilweise auch eine deutsche Gegenwart.

Dass die neuen polnischen Bürger nicht ganz so polnisch waren, kam bei verschiedenen Gelegenheiten zum Ausdruck – auch am ersten Julisonntag 1954. Tausende Menschen in der Region fieberten damals an ihren Radioapparaten mit und als der Kommentator Herbert Zimmermann mit dem euphorischen Satz »Deutschland ist Weltmeister« das Ende des WM-Endspiels in Bern verkündete, kam es in der vom Bergbau geprägten Stadt zu einem Freudenausbruch, den die Augenzeugen später – sicherlich etwas übertrieben – mit dem Karneval in Rio de Janeiro verglichen.

Den kommunistischen Sicherheitsdienst motivierten diese Ereignisse dazu, sich noch intensiver mit der Bekämpfung »revisionistischer Haltungen« auseinanderzusetzen. Dass die Beamten ihre Aufgabe ernst nahmen, zeigt der Fall Józef (Josef) Kaczmarczyk. Der Torwart von Górnik, der mit seinem Verein zweimal den Titel des polnischen Landesmeisters gewonnen hatte, landete 1960 hinter Gittern, weil er während eines Turniers in der Bundesrepublik angeblich den Nationalsozialismus verherrlicht habe. In Wirklichkeit hatte der Fußballer, der 1931 im noch deutschen Hindenburg zur Welt gekommen war, nur gesagt, dass er sich in Westdeutschland wie zu Hause fühle und, dass dort »Ordnung« herrsche. Nach 19 Monaten im Gefängnis war seine Karriere endgültig zerstört. Wie sich der langjährige Kapitän von Górnik und der polnischen Nationalmannschaft Stanisław Oślizło erinnert, hatte diese ohne-hin dramatische Geschichte mehr als nur einen bitteren Beigeschmack: »Dieser Parteifunktionär, der so allergisch auf die Aussage Kacz­marczyks reagierte und ihn anzeigte, sprach selbst zu Hause mit seiner Familie Deutsch.« Oślizło erlebte das, als er einmal bei ihm über-nachtete. »Wenig später, noch vor dem Bau der Berliner Mauer, nutzte er einen Besuch in der DDR, um über West-Berlin in die Bundesrepublik zu fliehen«, erzählt Oślizło und kann selbst nach über sechzig Jahren seine Empörung nicht verbergen.

Außerhalb Oberschlesiens wurden sowohl die Spieler als auch die Fans von Górnik unabhängig von ihrer faktischen Identität bis in die späten 1980er Jahre nicht selten als Deutsche oder verkappte Deutsche angesehen. Vor allem in Sosnowitz/Sosnowiec, der größten Stadt des direkt jenseits der Ostgrenze der Region gelegenen Dombrowaer Kohlereviers, waren die Gäste aus Hindenburg daher – um es milde auszudrücken – alles andere als willkommen. Noch lange vor der Gründung der Ultra-Bewegung kam es in der Nähe des Sosnowitzer Stadions zu Schlägereien unter den Fans von diesseits und jenseits der in den Köpfen sehr stark präsenten Grenze zwischen dem einst zu Preußen zählenden Oberschlesien und dem auf der kongresspolnischen Seite liegenden Dombrowaer Revier. Stanisław Oślizło, selbst ein polnischer Oberschlesier, erinnert sich an eine »Überraschung«, die ihn und seine Kollegen Anfang der 1960er Jahre vor einem Spiel in Sosnowitz erwartete. Im Umkleideraum für Gäste hing an jedem Schrank ein Zeitungsausschnitt mit der Ankündigung des Spielfilms Krzyżacy (»Die Kreuzritter«). »Die Anspielung war klar: Für die Gastgeber waren wir die Kreuzritter, die ein Synonym für Deutsche waren«, sagt der legendäre Verteidiger.

In den 1970er und 1980er Jahren bildeten einheimische, zum Teil deutsche oder deutsch gesinnte Oberschlesier, den Kern der Ultras-Gruppe von Górnik. Das konnte man sehen und hören. Es war nicht nur so, dass ihr Repertoire ein kurzes zweisprachiges Fanlied enthielt. Eine absolute Besonderheit für die Verhältnisse der polnisch-sozialistischen Realität war auch die häufige Präsenz einer schwarz-rot-goldenen Fahne in der Fankurve. Sie brachte die Ordner im Stadion zur Weißglut. Der Massenexodus der Oberschlesier Richtung Bundesrepublik Ende der 1980er Jahre änderte in dieser Hinsicht alles. Heute sind Choreografien mit regionalem Bezug eine Seltenheit.

Der Verein aus Oberschlesien war in den ersten vier Jahrzehnten seiner Existenz weder so erzpolnisch noch so sozialistisch, wie sich das die höchsten Stellen gewünscht hätten. Beinahe könnte man die Behauptung riskieren, dass Górnik in einem gewissen Sinne der Abneigung seines Mannschaftskapitäns gegenüber dem Kommunismus einen der größten Erfolge in der Vereinsgeschichte verdankt. In der Saison 1969/70 erreichte das Team aus Oberschlesien das Halbfinale des europäischen Pokals der Pokalsieger. Auf dem Weg ins Finale musste Górnik dreimal gegen den AS Rom antreten, denn nach zwei Partien stand es unentschieden und das Elfmeterschießen gab es damals noch nicht. Auch das dritte Spiel im neutralen Straßburg im Elsass endete mit einem Remis. Darüber, wer ins Finale kommen würde, musste das Los entscheiden oder – genauer gesagt – ein rot-grüner Jeton, den der Schiedsrichter warf. Oślizło zeigte auf die grüne Seite und das war – wie sich Sekunden später erwies – eine gute Entscheidung. Warum grün und nicht rot? »Rot war für mich die Farbe der Parteigenossen. Und die habe ich nie gemocht«, gesteht der Spieler nach über fünf Jahrzehnten. »Mein Vater, ein Großbauer, war entschiedener Gegner der Kollektivierung und der neuen sozialistischen Ordnung. In den späten 1940er Jahren wurde er deshalb verhaftet und zum Tode verurteilt«, erinnert sich der 57-fache polnische Nationalspieler. »Es war eine dramatische Zeit für unsere Familie. Dank einer Amnestie kam er nach acht Jahren im Zuchthaus wieder frei. Das erklärt, warum ich in Straßburg automatisch auf grün zeigte.« Bei dem Endspiel in Wien hatten die Oberschlesier weniger Glück als in der elsässischen Hauptstadt und verloren gegen Manchester City mit 1:2. Dennoch bleibt Górnik bis heute der einzige Verein aus Polen, der jemals das Finale eines europäischen Pokalwettbewerbs erreichte.

Bei den Spielern, die vor dem Jahr 1945 in Oberschlesien zur Welt gekommen waren, war die Kenntnis der deutschen Sprache etwas Selbstverständliches. Nicht ganz so selbstver-ständlich war sie hingegen bei jüngeren Generationen. Ein interessanter Fall ist daher der 1960 in Zabrze geborene 34-fache polnische Nationalspieler Andrzej Pałasz. Er wuchs näm-lich im deutschsprachigen Umfeld auf und erlernte Polnisch erst kurz vor seiner Einschulung. Vor jeder Reise in den Westen rechneten die Vereinsfunktionäre deshalb damit, dass er die Rückkehr verweigern würde. Doch Pałasz ging erst 1987 nach Deutschland, und zwar auf legalem Wege, um in Hannover seinen Traum von der Bundesliga zu verwirklichen.

Nicht alle »deutschen Akzente« bei Górnik liegen weit zurück. In der letzten Zeit standen in dem Verein mehrere Spieler unter Vertrag, die in den 1980er Jahren als Aussiedler in die Bundesrepublik ausgewandert oder als Kinder von Aussiedlern in Deutschland geboren worden waren, wie der Torwart Kevin Broll und der Verteidiger Michael Bemben.

Der bekannteste Vertreter dieser Gruppe ist jedoch Lukas Podolski. Seit 2021 schießt der deutsche Ex-Nationalspieler und Weltmeister von 2014 Tore für seinen oberschlesischen Lieblingsverein. Für »Poldi«, der die ersten Jahre seines Lebens in dem nur drei Kilometer vom Stadion entfernten Gleiwitzer Stadtteil Sosnitza/Sośnica verbrachte, ist Górnik mehr als nur ein Fußballverein. Und das ist er auch für Tausende Oberschlesier: In gewissem Sinne ist der Klub ein identitätsstiftender Faktor, und die Liebe zu der trikoloren Mannschaft wird in vielen Familien von Generation zu Generation übertragen. Der Verein bleibt ein Phänomen, obwohl sich heute nur noch die älteren Fans an seine großen Erfolge erinnern können.

Vor knapp zwei Jahren wurde Górnik sogar bühnenfähig. Im Theaterstück Chłopcy z Roose­velta (»Die Jungs von der Roosevelt-Straße«), dessen Titel sich auf die Lage des Stadions bezieht, ist Sport nur auf den ersten Blick das Hauptthema. Vielmehr erzählt es von Freundschaft, Leidenschaft, Ambitionen, nicht zuletzt von der so komplexen oberschlesischen Identität, die trotz historischer Umwälzungen immer noch eine wichtige Rolle in der Region spielt.