Breslau/Wrocław hat eine bewegte Geschichte. Mehr als 1000 Jahre alt ist die Hauptstadt Niederschlesiens, nicht ein-mal ein Jahrhundert lang ist sie polnisch. Die heutigen Grenzen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg festgelegt. Das neue Territorium Polens wurde von der Volksrepublik als »Wiedergewonnene Gebiete« bezeichnet. Diese Propaganda verschwieg die heterogene Kulturlandschaft der »Nord- und Westgebiete« Polens, wie sie heute zwischen Oder und Bug bezeichnet werden. Die junge Generation hat das Schweigen um das Kulturerbe gebrochen. Von Karolina Szulejewska.
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© Małgorzata Urlich-Kornacka

Als nach dem Zweiten Weltkrieg die Losung von der »Rückkehr in die Wiedergewonnenen Gebiete« ausgegeben wurde, war diese verbunden mit der Angst, dass Polen wieder von Deutschland angegriffen und Schlesien durch die Deutschen zurückerobert werden könnte. Die Einstellung der polnischen Zivilbevölkerung gegenüber den Deutschen war durch den Besatzungsterror der Nationalsozialisten und den daraus resultierenden Hass auf alles Deutsche beeinflusst.
Aber bereits in den 1970er Jahren begannen in Breslau geborene Polinnen und Polen, die kommunistische Propaganda zu hinterfragen. In den folgenden Jahrzehnten änderte sich das Denken der Zugezogenen: Sie begannen, das Erbe zu akzeptieren und seinen Wert zu erkennen. Die Unterzeichnung des Deutsch-Polnischen Nachbarschaftsver-trags 1990, der auch die Unantastbarkeit der Grenzen bestätigte, zerstreute die Ängste der Stadtbevölkerung, dass sie ihre neue Heimat in Zukunft wieder verlieren könnte. Es wurden neue Narrative über die Geschichte der Oderstadt entwickelt.

Diese Herangehensweise impliziert die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit. Seit Anfang dieses Jahrhunderts setzt sich dieser Prozess noch stärker fort und ist auch in vielfältigen Zweigen der Popkultur sichtbar. Verschiedene Kunstschaffende richten bei der Suche nach ihrer Identität ihren Fokus auf die Vorkriegsgeschichte Breslaus.

Zeitreise nach Breslau

Der Autor Marek Krajewski beispielsweise nimmt die Leserschaft in seiner Krimi-Reihe mit dem Kriminalrat Eberhard Mock in der Hauptrolle auf eine Zeitreise mit. Die zen­trale Intention der Romane ist – neben den Kriminalgeschichten – das Erinnern an die deutsche Vergangenheit Breslaus. Die Handlung der Krimis spielt in der Vorkriegszeit. Der Schriftsteller berücksichtigt dabei die historischen Merkmale der Stadt. Mock wohnt am Zwingerplatz, der heute plac Teatralny heißt. Öfter besucht er das Wertheim-Kaufhaus, das zu seiner Zeit das größte Kaufhaus in Ostdeutschland war.

Alle Gegenstände, die Mock benutzt, sind Produkte, die in den 1940er Jahren allgemein bekannt waren. Der Kommissar ist ein snobistischer Ästhet. Selbst während eines Bombenalarms gönnen sich Mock und seine Frau einen auf dem Schwarzmarkt beschafften berühmten Machwitz-Kaffee. Neben der Kultnähmaschine Singer oder den Zigaretten Laureus werden auch Waren erwähnt, die den Bezug zu Niederschlesien betonen sollen. Erwähnenswert sind vor allem das Haase-Bier und die Schlesische Zeitung. Außer semifiktiven Figuren treten in jedem Krimi auch historische Personen auf. Im Band Festung Breslau wird die ganze nationalsozialistische Führungsschicht Breslaus erwähnt.

Krajewski hatte als erster Krimiautor nach dem Jahr 2000 kommerziellen Erfolg. Sein Werk hat das Bild vom heutigen Wrocław als einer Stadt mit bewegter und multidimensionaler Geschichte deutlich beeinflusst. Polnische Leserinnen und Leser Krajewskis interessieren sich für die ehemaligen deutschen Straßen- und Gebäudenamen und suchen die entsprechenden Schauplätze. Seine Werke sind in Polen so beliebt, dass sogar eigene »Mock-Spaziergänge« durch die Stadt an der Oder organisiert werden.

Festung Breslau – der letzte Roman der Reihe – spielt unmittelbar vor der Zäsur der Flucht und Vertreibung der Deutschen aus Breslau. Die Stadt wurde nämlich in den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs zur Festung erklärt und anschließend in Teilen zerstört. Bevor das deutsche Breslau im Frühjahr 1945 kapitulierte, opferten die Nationalsozialisten während der Belagerung durch die Rote Armee das Leben von zehntausenden Menschen. Vor diesem historischen Hintergrund führt Mock seine Ermittlung. Um seinen letzten Fall aufzuklären, begibt er sich durch Labyrinthe in Ruinen, die in den düsteren Breslauer Unterwelten entstehen.

Last Party in Breslau

Für denselben historischen Moment, in dem auch der Roman Festung Breslau spielt, interessiert sich der Musiker Igor Boxx. Seine beiden Alben Breslau (2010) und Festung Breslau (2012) wurden sogar als »Soundtrack zu Krajewskis Krimis« bezeichnet. Igor Boxx gehört zum Breslauer Duo Skalpel, das zwei Alben mit einem Mix aus Jazz und Elektro beim Londoner Label Ninja Tune veröffentlichte und damit einem internationalen Publikum bekannt wurde. In seinem Soloprojekt orientiert sich Igor Pudło, wie er mit bürgerlichem Namen heißt, an einer Stadt, die sich im Ausnahmezustand befindet. Breslau liegt im Sterben und das Album Breslau ist dementsprechend düster und beklemmend. Die Samples und Beats erzählen das Drama des Krieges. In der Semantisierung der abstrakten Musiksprache helfen einzelne Titel, diverse Momente der Kämpfe zu verbildlichen. Zum Beispiel Panzer oder Russian Percussion. Der Klang erzählt von der Bestialität der bolschewistischen Invasion. Krautrock-Motorik gibt die Monotonie langandauernder Kämpfe wieder und psychedelische Ornamente illustrieren die Absurdität des Krieges.

Auf dem zweiten Album von Igor Boxx, Last Party in Breslau, erhebt sich die Stadt wieder aus den Trümmern. In seiner Vorstellung erinnert sich die Stadt noch an ihre vorherige Inkarnation und deren letzte Momente. Die Musik soll die Atmosphäre der letzten Orgie der verängstigten Bürger wiedergeben, die »Stalinorgel« begleitet das Lied Katjuscha. Den Aufbau und die Struktur des Albums vergleicht Igor Boxx mit Wrocław selbst: »Nach dem Krieg wurde meine Stadt neu gemixt und in Wrocław umbenannt. Einige der alten Gebäude wurden rekonstruiert, aber die meisten Viertel neu gebaut, und die Überreste aus der alten Zeite mit dem Neuen und Frischen kombiniert«. Igor Boxx nimmt aber nicht nur Geschichtsliebhaber, sondern auch Clubbesucher mit auf eine historische Reise, indem er die Geschichte verarbeitet und seine Hörer einlädt, aktiv mitzumachen. Dabei handelt es sich um ein internationales Publikum, denn seine überwiegend instrumentale Musik stößt auf keine Sprachbarriere.

KK 1438 16 19 Szulejewska Wroclaw erkundet Breslau Mode 800x1200© Małgorzata Urlich-KornackaDas 2017 gegründete Kollektiv Breslauerin erinnert an die deutsche Vorkriegsgeschichte der Stadt mit materiellen Gegenständen, und zwar mit Kleidung. Die Gründerinnen des Kollektivs sind von der deutschen Mode der Zwischenkriegszeit fasziniert. Sie suchen die Kleidung aus den 1930er und 1940er Jahren in kleinen Secondhandläden oder lassen sie anhand von alten Schnittmustern nähen. Das Interesse an den extravaganten Stücken ist größer als erwartet.

Für die Gründerinnen der Breslauerin ist diese postdeutsche Mode gleichbedeutend mit Emanzipation – die deutsche Kleidung unterschied sich von den französischen Kreationen, da sie für moderne, unabhängige, oft sexuell befreite Frauen entworfen wurde. Die Gründerinnen entdeckten den feministischen Ursprung der Kleidung: »Das war die Mode für finanziell unabhängige Frauen, die einen Stil wollten, der Modernität widerspiegelt, einen urbanen Rausch.«

Genauso wie die Kleidung Ausdruck der deutschen Vorkriegsidentität der Stadt war, waren es auch Wandbeschriftungen, die mit einer dicken Schicht Putz überzogen wurden. An mehreren Gebäuden in Breslau kann man alte Inschriften erkennen, sei es an einem Fahrradladen oder einem Friseursalon. Die »Tymoteusz Karpowicz Stiftung für Kultur und Bildung« erstellte eine Karte dieser Aufschriften. Sie erschien im November 2020 und ist frei erhältlich, sowohl in Print- als auch in der digitalen Version. Paweł Czekański, einer der Autoren des Projekts, sagt: »Wir leben erst seit zwei oder drei Generationen hier. Man soll sich bewusst machen, dass hier schon jemand vor uns gelebt hat.« Auf der Karte befinden sich über 200 Orte. Die Autoren markierten auch kaum sichtbare und restaurierte Inschriften. Folgt man der Karte, stößt man auf Gullydeckel, Grabsteine oder Inschriften an den Schwellen von Mietshäusern.

Während das Narrativ auf institutioneller Ebene in Polen, etwa vom Ministerium für Kultur und Nationales Erbe, ausschließlich natio­nal geprägt ist, wendet sich die Breslauer Bevölkerung mehr und mehr dem kulturellen Gedächtnis und der Vergangenheit ihrer Stadt zu. Erinnerungskultur ist nämlich keineswegs nur ein Produkt des offiziellen institutionellen Diskurses. Es gibt den Bedarf, die lokalen vielfältigen Identitäten zu erkunden und entsprechend an die deut-sche Bevölkerung im heutigen Polen zu erinnern. Diese Entdeckung ist jedoch vor allem eine Generationenfrage. Für die Nachkriegsgeneration war das deutsche Erbe problematisch, weil es von der kommunistischen Propaganda ausgeblendet worden war. Für die später Geborenen dagegen ist es kein Tabuthema mehr.