Ein starker Wind weht, Wellen peitschen auf den Strand, auf dem Meer bilden sich Schaumkronen. Kazimieras Mizgiris steht auf der Düne vor seinem Atelier in Nidden/Nida auf der Kurischen Nehrung, blickt auf die stürmische Ostsee. »Bernsteinwetter«, sagt der Litauer mit einem Lächeln. Eigentlich ist er ausgebildeter Kunstfotograf. Doch seit mehr als drei Jahrzehnten widmet er sein Leben dem goldgelben Stein. Drei private Bernsteinmuseen hat der 72-Jährige aufgebaut – in Nidden und in Wilna/Vilnius.
Nicht wenige der ausgestellten Stücke hat Mizgiris einst selbst aus der Ostsee gefischt. Sie spült bei Sturm die wertvollen Steine vom Meeresgrund hoch und trägt sie in Küstennähe. »Bernsteinfischen hat in Litauen eine jahrhundertelange Tradition. Noch immer stürzen sich viele mit Leidenschaft in die Fluten«, erzählt der Bernsteinexperte. Bis zu den Knien stehen die Fischer dann mit Anglerstiefeln und brusthoher Gummihose in der Brandungszone und versuchen mit einem langstieligen Netzkescher die in den aufgewühlten Wellen schwebenden Brocken zu erbeuten. Sturmjacken und Seemannspullover schützen vor der Kälte. Es ist eine harte Arbeit mit Meeresrauschen im Ohr.
Bewahrte Urzeit in goldgelb
Noch ein paar Dutzend Bernsteinfischer gibt es in Litauen, die meisten von ihnen haben das Handwerk einst von ihren Vätern und Großvätern gelernt. Sie ziehen geschätzt mehrere Hundert Kilogramm des kostbaren Materials, das später weiterverarbeitet wird, an Land. »Erntezeit« ist von November bis März – auch an anderen Abschnitten der Ostseeküste von der Weichselmündung in Polen bis hinauf ins südliche Lettland. Auch Hobbysammler durchkämmen die Strände nach angeschwemmtem Bernstein, der sich in winzigen Brocken im Spülsaum im Sand versteckt, oft zwischen Muscheln, Algen und Treibholz.
»Deutsche Touristen kommen immer ganz glücklich zu uns und zeigen stolz ihre Funde. Viele können dann gar nicht mehr aufhören zu suchen«, berichtet Mizgiris. Auch seine Leidenschaft für Bernstein wurde einst an dem Strand geweckt, der sich direkt hinter der in einer traditionellen Fischerkate untergebrachten Museumsgalerie ausbreitet. Der umtriebige Querkopf kam in den siebziger Jahren nach Nidden. Inmitten der sandigen Dünenwelt der Kurischen Nehrung widmete sich Mizgiris der Fotografie, verliebte sich dabei in die einzigartige Naturlandschaft, seine Frau Virginija – und natürlich den gintaras, wie Bernstein auf Litauisch heißt.
Gelbgoldrausch in der blauen Erde
»Schimmert er nicht wunderbar?«, fragt Mizgiris in gebrochenem Deutsch mit funkelnden Augen. Behutsam nimmt er in seinem Atelier ein Stück Bernstein in seine Hand, rollt es zwischen den Fingern, hält es gegen das Licht und dreht es, riecht daran. »So schön von den Wellen, vom Sand geschliffen. Ganz Natur«, schwärmt der Bartträger mit einem Bernsteinsplitter als Ohrring. Eloquent und mit fast missionarischem Eifer weiht er in die Ursprünge, Geheimnisse und die Bearbeitung von Bernstein ein. Nicht umsonst gilt er in Litauen als der »Bernstein-Papst«.
Genau genommen ist der klare bis undurchsichtig goldgelbe Schmuckstein aber kein Stein, sondern fossiles Harz. Abgesondert wurde es nach Klimaveränderungen vor Millionen von Jahren von Kiefern und anderen Nadelhölzern, die einst einen subtropischen Waldgürtel auf einem Festland im Bereich der nördlichen Ostsee bildeten. Durch chemisch-geologische Prozesse und tektonische Verschiebungen lagern heute gewaltige Mengen des erhärteten Harzes in den Meeresgründen nahe der Küstenregionen. Es werde aber erst dann als Bernstein bezeichnet, doziert Mizgiris, wenn es älter als dreißig Millionen Jahre ist.
© Palangos Gintaro MuziejusManchmal finden sich im Bernstein auch Fossilien von kleinen Tieren oder Pflanzenteilen. Diese sogenannten Inklusen sind besonders wertvoll, da die eingeschlossenen Organismen perfekt konserviert wurden. »Das sind Spuren Millionen Jahre alten Lebens. Sie geben einen einmaligen Einblick in die einstige Flora und Fauna – und sind von großer Bedeutung für die Wissenschaft«, sagt Regina Makauskienė vom Bernsteinmuseum in Polangen/Palanga, das eine der bedeutendsten Sammlungen der Welt beherbergt. Etwa die Hälfte der insgesamt rund 30 000 Exponate sind Inklusen. Darunter auch eine äußerst seltene Eidechse. »Ein echtes Wunder«, schwärmt Makauskienė.
Weltweit sind etwa 200 Bernsteinvorkommen bekannt. Doch nirgends gibt es so viel zu finden wie an der Ostsee – und nur selten so reich und qualitätvoll. Dort war Bernstein einst das wichtigste Handelsgut und wurde sogar als Zahlungsmittel genutzt. In Nidden markiert ein Obelisk am Kurischen Haff den Anfang einer der Bernsteinstraßen, über die einst »das Gold des Nordens« in den Süden Europas bis ins antike Rom und Athen gelangte. Viele Legenden ranken sich seitdem um Bernstein, der schon damals ein begehrter Schmuckstein war, auch weil ihm heilende Eigenschaften zugesprochen werden.
Besonders reichlich vorhanden ist er im ehemals nördlichen Ostpreußen an der Küste des Königsberger Gebiets und des Memellandes. Mehr als neunzig Prozent des weltweit geförderten Bernsteins stammen aus Palmnicken, dem heute russischen Jantarny. Dort wurde 1858 von Stantien & Becker der erste Tagebau eingerichtet. Die von einem Kaufmann und Kahnschiffer gegründete Firma aus Memel/Klaipėda hatte wenige Jahre zuvor bereits im Fischerdorf Schwarzort/Juodkrantė mit dampfbetriebenen Baggern und mit Tauchern die industrielle Bernsteinförderung eingeläutet. Dabei wurden steinzeitliche Bernsteinartefakte gefunden – der sogenannte Schatz von Schwarzort. Viele Jahre später wurde im Kurischen Haff auch nach dem legendären Bernsteinzimmer gesucht – wie so oft vergebens.
In Palmnicken dagegen kommt Bernstein nicht aus dem Meer, hier wird er in Küstennähe mit riesigen Baggern aus einer Sedimentschicht auf der Halbinsel Samland ausgegraben, die zwischen Litauen, Polen und den beiden Nehrungen in die Ostsee ragt. Für Geologen ist es die fundreichste Lagerstätte der Welt: Ein Kubikmeter der sogenannten blauen Erde enthält bis zu 4,5 Kilogramm Bernstein.
Das Kaliningrader Bernsteinkombinat, dessen Ursprünge in der von 1926 bis 1945 bestehenden Staatlichen Bernstein-Manufaktur Königsberg liegen, fördert nach eigenen Angaben im Durchschnitt rund 400 Tonnen Rohbernstein pro Jahr. Weitere Hunderttausende Tonnen sollen so nah an der Erdoberfläche lagern, dass sich der offene Tagebau noch mehrere Generationen lang lohnen werde – so zumindest versichert es der russische Staatsmonopolist. Exportiert wird in alle Welt. Auch Litauen bezog lange Bernstein aus Palmnicken. Legal und auch durch Schmuggel wurde er über die südlich von Nidden quer über die Nehrung verlaufende Grenze gebracht. Doch seit der Annexion der Krim 2014 und den damit einhergehenden Sanktionen des Westens gegen Russland stammte der verwendete Rohbernstein vor allem aus Lagerstätten in der Ukraine. Diese können allerdings seit dem Kriegsbeginn 2022 nicht mehr liefern.
© Adobe Stock/ ClaudiaMizgiris kann der von ihm als »brutal« bezeichneten industriellen Bernsteinförderung nichts abgewinnen. Er setzt vor allem auf Seebernstein, der – anders als der raue, brüchige und trübe Erdbernstein – bereits von den Gezeiten glattgeschliffen, fest und farbenstark ist. Mit viel Geschick formen er und die ihm zuarbeitenden Kunsthandwerker daraus Ketten, Ringe und Armbänder, die alles andere als altbacken-gediegener Oma-Schmuck sind. Dabei versuchen sie, den Bernstein weitgehend in seiner ursprünglichen Form zu belassen und möglichst wenig wegzuschleifen. Das »wahre Gesicht« eines jeden Steins solle gezeigt werden, betont Mizgiris. Denn es gebe kaum zwei Naturbernsteine, die sich in Farbe und Struktur gleichen. Er setzt auf Klasse statt Masse.
Die Geschäfte von Mizgiris laufen gut. Denn längst sind es nicht mehr nur ostpreußische Heimwehtouristen oder deutsche Urlauberinnen, die nach einem Besuch im nahe gelegenen Thomas-Mann-Haus bei ihm ein Souvenir kaufen. Sein Bernsteinschmuck ist international stark gefragt. Gehandelt wird er auf Märkten wie dem von Polangen, das mit seinen vielen Werkstätten und Ateliers als litauische Bernsteinhauptstadt gilt. Dort wie auf der Kurischen Nehrung präsentieren zudem kleine Straßenhändler ihre Waren, die sich häufig an der Grenze zwischen Kunst und Kitsch bewegen – und nicht immer echt sind. So manches Stück besteht aus gepresstem Kunstharz.
Angezogen haben die Bernstein-Preise in den vergangenen Jahren vor allem durch die gestiegene Nachfrage aus China. Nachschubprobleme sieht Mizgiris aber nicht; das Meer halte noch genug Bernstein bereit. Er verweist auf die litauische Sage von der Meeresgöttin Jūratė, die sich in den Fischer Kastytis verliebte und diesen in ihr Bernsteinschloss auf dem Ostseegrund lockte. Als ihr Vater, der Gott Perkūnas, davon erfuhr, schleuderte er zornig Blitz und Donner, zerstörte das Schloss und tötete Kastytis. Über den Verlust weinte Jūratė goldene Tränen, die sich in Bernstein verwandelten – und immer bei Sturm zusammen mit Stücken des Schlosses an die Küste gespült werden.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr 1431 | September/Oktober 2022
mit dem Schwerpunktthema:
Stadt. Land. Fluss. Memel(Land)