Eine Schülerfirma aus Potsdam dokumentiert die Arbeit der Stadtschreiber-Stipendiaten im östlichen Europa
von Markus Nowak
»Schon von klein auf wurde ich mit Geschichten überschwemmt«, sagt die Stimme im Hintergrund, während auf der Leinwand die Miniaturansicht einer Stadt zu sehen ist. Die Kamera umrundet wie im Vogelflug die Stadtmauern und gleitet über die kupferfarbenen Türme und Dächer. »Von Gutenachtgeschichten, die mein Vater mir erzählte oder die ich zwischen Buchdeckeln in der Bibliothek entdeckte. Bis hin zu den Geschichten, die sich Erwachsene erzählen. […] Etwa vom Krieg oder einem fernen Land, das es nicht mehr gibt.« Die Stimme »aus dem Off«, wie es im Filmjargon heißt, gehört zu Marcel Krueger und die nachgebaute Stadt werden Ostpreußen-Kenner wiedererkennen: Es ist Allenstein/
Olsztyn.
Von Mai bis September 2019 war Krueger Stadtschreiber des Kulturforums in der Stadt an der Alle, und die beschriebene Szene ist der Beginn eines Dokumentarfilms über ihn und seine Zeit im Ermland und in Masuren. Spurensuche in Allenstein, wie die halbstündige Doku heißt, feierte Anfang November 2019 vor über hundert Gästen Premiere, soll auch im Ausland gezeigt werden und ist auf Youtube im Internet zu finden. »Ein absolut gelungener Film«, kommentiert Krueger den Streifen. »Das Team hat Allenstein und meine Arbeit in wunderschönen Bildern, mit schnellen Schnitten und viel Liebe fürs Detail eindrucksvoll portraitiert.« Harald Roth, Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa, findet, die Doku »zeigt eindrucksvoll, wie in der einstmals deutschen Stadt mit jenem Erbe der Vergangenheit umgegangen wird.«
Und auch Regisseur David Katz zeigte sich bei der Premiere erleichtert: »Ich freue mich, dass der Film dem Publikum gefallen hat, schließlich hat er uns Unmengen an Stunden gekostet. Es ist ein guter erster Film geworden.« Erster Film? Gedreht haben die Dokumentation Schüler aus Potsdam. Doch wer verwackelte Bilder und Aufnahmen erwartet, wird positiv überrascht: professionelle Kameraführung, raffinierte Schnitte und ein roter Faden, der sich durch den ganzen Film zieht. Dafür verantwortlich zeichnen Regisseur Katz, 17-jähriger Abiturient aus Teltow, und Uwe Fleischer, Filmkoordinator am Filmgymnasium Babelsberg. Der 70-Jährige ist zugleich Mentor der bfg filmproduction, einer Schülerfirma, zu der auch Katz gehört.
Leidenschaft, nicht nur Lernen
Gegründet wurde die Produktionsfirma 2010 von Filmschülern. Sie hat zum Ziel, das im schulischen Profil Film erworbene Wissen realitätsnah einzusetzen, Routine zu gewinnen und Schlüsselkompetenzen zu erwerben, die den Schülern den erfolgreichen Übergang in das Berufsleben erleichtern: Teamfähigkeit, Eigeninitiative und Verantwortungsbereitschaft. Die von David Katz angesprochenen Stunden an Arbeit hießen für den 17-Jährigen in den Herbstferien Schule und Filmschnitt statt Strand oder Städteurlaub. Hinzu kam noch eine Woche Dreh in den Sommerferien vor Ort. »Das ist für mich nicht nur Lernen, sondern auch eine Leidenschaft«, sagt der 17-jährige Jungregisseur. »Auch, weil der Film einen geschichtlichen Hintergrund hat.« So habe er viel über das deutsche Kulturerbe im östlichen Europa gelernt. »Mit Allenstein verbunden sind Kopernikus und Erich Mendelsohn. Das erfährt man vor Ort.«
Beide »Söhne Allensteins« tauchen selbstredend in dem Film auf: Vor der Kopernikus-Statue wurde gedreht und auch in der ehemaligen Begräbniskapelle auf dem Friedhof von Allenstein, dem Taharahaus, einem Frühwerk Erich Mendelsohns. Katz erzählt von den vielen Kanaldeckeln mit der deutschen Bezeichnung »Allenstein« oder alten deutschen Inschriften auf Häusern, die nun zum Vorschein kommen und häufig restauriert werden. »Spannend«, sagt er, zumal ihn mit Ostpreußen oder Regionen im östlichen Europa familiär eigentlich nichts verbindet. Wie auch Lorenz Reimann nicht. Der 18-Jährige hat im Frühjahr 2019 Abitur gemacht und war 2018 in Lemberg/Lviv mit der Schülerfirma beim Dreh dabei. Die Stadt mit den vielen Namen, heißt die daraus entstandene Filmreportage mit der Stadtschreiberin Barbara Thériault.
Schülerfirma begleitet Stadtschreiber zum fünften Mal
Der angehende Filmstudent erzählt, wie die Reise nach Galizien durchaus sein Interesse an der deutschen Geschichte im östlichen Europa geweckt hat, auch wenn in Lemberg – anders als in Allenstein – etwa deutsche Spuren nicht auf den ersten Blick ersichtlich sind. Ähnlich wie David in Allenstein war Lorenz in Lemberg Regisseur und Kameramann und machte die »post production«, also u.a. den Filmschnitt. Die Teams, die Uwe Fleischer zu den Drehs mitnimmt, sind meist zwei Schüler, die zugleich die Kamera bedienen und den Ton aufnehmen. Minimalistisch, aber durch immer leichtere und bessere Technik zugleich ausreichend, zumal im Beisein von Fleischer, der von Potsdamer Zeitungen gern als »Film-Urgestein« bezeichnet wird.
Der 70-Jährige ist seit 1970 im Filmstudio Babelsberg tätig: Er war Kameraassistent und Filmfotograf, absolvierte dann die Filmhochschule Babelsberg und war 13 Jahre Chef der Trickabteilung des DEFA-Studios. Seit vielen Jahren schreibt Fleischer über die Themen Kamera, Szenografie und Animation Bücher, unterrichtet an der HFF Babelsberg und ist seit zehn Jahren Filmkoordinator am Filmgymnasium Babelsberg. Fleischers Mutter stammt aus Breslau/Wroclaw; so interessierte ihn die Stadt Lemberg, weil sich ein großer Teil der polnischen Bewohnerinnen und Bewohner nach 1945 in Niederschlesien niedergelassen hatte. Besonderen Reiz hatte für ihn daher die Anleitung der Dokumentation über den Stadtschreiber in Breslau 2016.
Dass die Schülerfirma bfg filmproduction seit vier Jahren die Stadtschreiberinnen und Stadtschreiber des Deutschen Kulturforums östliches Europa begleitet, kommt nicht von ungefähr. Die kleine Schul-Produktionsfirma realisiert im Kundenauftrag kleinere Filmprojekte von der Konzeption bis zur Auslieferung von fertigen Filmen. Oft sind es »Imagefilme«, die Firmen bestellen, also kleine Firmenportraits. Oder immer wieder Bonusmaterial für digitalisierte DEFA-Film-DVDs. »Ursprünglich sollten wir einen kurzen Trailer über Pilsen/Plzeň und die Stadtschreiberin Wolftraud de Concini machen, dann wurde es gleich ein ganzes Portrait«, erinnert sich Fleischer. Mittlerweile haben manche Stadtschreiber-Dokus halbe Spielfilmlänge, also 45 Minuten.
»Nebenbei« viel über deutsche Geschichte lernen
»Durch den Kontakt mit den Stadtschreibern erschloss sich uns etwas Neues«, sagt der erfahrene Filmproduzent. »Den Schülern eröffnet sich ein Themenbereich, der einerseits speziell, andererseits sehr reizvoll und für die meisten neu ist: deutsche Kultur im östlichen Europa und ihre dort noch bestehenden Zeugnisse.« Denn die Schüler erfahren wie nebenbei viel über die Geschichte der Regionen, weiß Fleischer. Abiturient Lorenz und Zwölftklässler David pflichten bei. »Wir erhielten so Einblicke in die Geschichte von ehemals deutschen Städten, deren Schicksal im Geschichtsunterricht nicht wirklich vorkommt.« Allenstein war dabei für David ebenso ein Erlebnis wie Lemberg für Lorenz, auch wenn viel Arbeit vor Ort, aber auch im Vorfeld bei der Recherche und noch mehr im Schnitt steckte. »Im Rückblick war es ein erkenntnisreiches Vergnügen gewesen«, pflichten beide bei.
»Kleine Teams erarbeiten selbständig ein Bild der jeweiligen Stadt, wobei sie sich die Perspektive des dort residierenden Schriftstellers bzw. der Schriftstellerin zu eigen machen«, erläutert Fleischer den eher filmtheoretischen Teil des Projekts. »Bei dieser Arbeit sind technische Herausforderungen zu bewältigen, eine affektive Beteiligung allerdings ist ebenfalls möglich«, sagt der Filmdozent. Seine Filmschüler pflichten bei. Sie freuen sich, neben der Erfahrung auch eine Referenz erworben zu haben, die sie bei der Bewerbung etwa an einer Filmhochschule einreichen können. Ist die Arbeit an den filmischen Dokumentationen Unterricht, gar Geschichtsunterricht, da so viel Historisches vorkomme? Lorenz verneint. »Nein, ich kann es nicht als Unterricht bezeichnen, ich habe es zu gern gemacht.«