Apotheker Melchior und der Teufel von Gotland. Eine Buchrezension von Martin Pabst

KK Rezi Martin Pabst Melchior Titelbild kleiner»Ist dieser Apotheker hier? Wakenstede, der Mörder jagt?« Reval/Tallinn im Mai 1433, Euert Duseborgh liegt im Sterben. Während seine Kinder den Priester zur letzten Ölung rufen, lässt der alte Kaufmann nach Melchior Wakenstede schicken, dem Apotheker, der Mörder jagt. Denn Euert hat einen dringenden Auftrag für ihn: Melchior müsse unbedingt ein altes Unrecht wiedergutmachen. Doch worum es genau geht, ist aus dem alten Duseborgh, der mal auf Estnisch, mal auf Deutsch wirr vor sich hinbrabbelt, nicht herauszubekommen. Was haben die silbernen Spangen – offenbar das Werk eines estnischen Meisters – damit zu tun, die Duseborgh dem Apotheker zusammen mit einer stolzen Summe Bargeld aushändigen lässt, bevor er seinen letzten Atemzug macht? Für die Kinder des Verstorbenen ist die Sache klar: Ihr Vater war nicht nur in seinen letzten Stunden, sondern schon Wochen zuvor nicht mehr bei Verstand. Das äußerst ungewöhnliche Testament, in dem der Apotheker erneut erwähnt wird, bestärkt sie in diesem Verdacht.

Das dritte Buch vom mörderjagenden Apotheker beginnt nicht in Estland, sondern am anderen Ende der Ostsee in Lübeck, wo sein gleichnamiger Sohn im zweiten Band gestrandet war. Dort lernt der junge Melchior, der weiterhin Teil der mysteriösen Lewenhardt-Bruderschaft des Meister Notke ist, seine Familiengeschichte kennen. Dazu gehört auch der Ursprung des »Fluchs der Wakenstedes«, der seine Familie dazu zwang, über Generationen hinweg als Apotheker nach einem Heilmittel zu suchen. Der mittellose Apothekergeselle hofft weiterhin, seine große Liebe Lucia Lodehoff, die Tochter eines Kaufmanns, der in finanziellen Schwierigkeiten steckt, für sich zu gewinnen. Ihr Vater bevorzugt allerdings das Werben eines französischen Barons. Und wer ist dieser geheimnisvolle »Gotlandteufel«, der offenbar nach Reval reist, um zu töten?

Mit dem Vater in Reval und dem gleichnamigen Sohn in Lübeck folgt man nicht nur zwei Erzählsträngen, sondern auch zwei unterschiedlichen Zeitebenen. Denn die Handlung rund um den Junior setzt ein halbes Jahr nach den Geschehnissen des zweiten Bandes ein und holt vom Oktober 1432 an zum Vater auf. Anders als bei den Vorgängerbüchern baut Hargla im dritten »Apotheker-Krimi« sofort Spannung auf und lässt das erste Kapitel umgehend mit einer fiesen Pointe enden.

Doch Hargla bleibt seinem Stil treu: Seine Protagonisten pflegen weiterhin ausgedehnte Gespräche zu führen, die die Leserinnen und Leser tief in deren Lebenswelt eintauchen lassen. So wird greifbar, wie eng Livland und Reval auch über die Hanse hinaus in den europäischen Gesamtkontext eingebunden waren: Man weiß um die südwestdeutschen Bauernunruhen, die Hussitenkriege und das Basler Konzil. Auch das Estland des Spätmittelalters lernt man kennen.

Hargla schildert das Mit- und Nebeneinander von Esten und Deutschen ohne Exotik und ohne  ideologische Rückprojektion – als ganz normalen Alltag, in dem Dinge und Orte je nach Sprache eben unterschiedlich heißen. So reist Melchior in »die Stadt Dorpat, die die Esten Tartu nennen«. Der Silberschmied Naystewalde ist ein gutes Beispiel. Er »sprach ziemlich gutes Deutsch, obwohl man hören konnte, dass es nicht seine Muttersprache war. […] Trotz seines estnischen Bluts habe er sich immer deutsche Predigten angehört, obwohl in allen Kirchen auch Estnisch gepredigt wurde. Einmal habe er eine nichtdeutsche Braut gehabt, die jedoch noch vor der Hochzeit verstarb.«

Wie schon in den vorigen Bänden spielt Hargla mit der Leserschaft. Er lässt seine Protagonisten Erkenntnisse haben, die sie nicht mit den Lesern teilen, und stellt vor allem den jungen Melchior vor ethische Dilemmata, die man ihm gern erspart sähe, sodass der Leser – zumindest der Rezensent – mit ihm leidet. Der Vater verwendet das Schachspiel als Ersatz für die in modernen Krimis beliebten Pinnwände mit Fotos, Namen und Bindfäden. Und selbstverständlich darf Melchior Seniors Apothekerschnaps nicht fehlen, ein Allheilmittel, das nicht nur verschiedene Gebrechen lindert, sondern vor allem Menschen von ihren Zweifeln befreit, dem rätsellösenden Apotheker zu helfen.

 

Indrek Hargla: Apotheker Melchior und der Teufel von Gotland. Hanse-Krimi aus Tallinn und Lübeck; aus dem Estnischen von Cornelius Hasselblatt, Rote Katze Verlag, Lübeck 2024, 540 S., ISBN 978-3-910563-23-0