Jan Ruhkopf beschäftigt sich in diesem Buch mit der Geschichte des Bundesministeriums für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (BMVt), das von 1949 bis 1969 existierte. Thematisiert wird ein »Sonderministerium«, das kaum über Entscheidungsgewalt verfügte, dessen institutionelle Zuständigkeit unscharf und in der Ausrichtung der politischen Ziele scheinbar widersprüchlich gewesen sei.
Letzteres zeigt Ruhkopf hier deutlich am Begriff der »Eingliederung«, die eine Integration von Vertriebenen in einer Zeit vorsah, in der gleichzeitig eine Rückkehrperspektive für diese Menschen offengehalten wurde, indem die offizielle Politik den Anspruch auf die verlorenen deutschen Ostgebiete innen- und außenpolitisch aufrechterhielt. Andererseits sei das BMVt insgesamt von einem zunehmenden Bedeutungsverlust gekennzeichnet gewesen. Diesen stellt der Autor lehrreich vor dem Hintergrund der erfolgreichen Politik des Ministeriums und der Adenauerzeit dar, durch die damals als »Unruheherd« und potentiell als demokratiegefährdend eingeschätzte Massenbewegungen wie Heimkehrer- und Vertriebenenverbände in ihrer Wirkungskraft eingeschränkt wurden.
Faszinierend lesen sich die Passagen über die Visualisierungspraktiken in politischen Broschüren, die mit Unterstützung und Mitwirkung des BMVt herausgegeben wurden und aus denen sich damals eine »bestimmte regierungsamtliche Deutung spezieller Themen« herauslesen ließ. Aus einer auch vom NS mitgeprägten Tradition der Demografie und der »Bevölkerungswissenschaften« wurde dabei das Ziel verfolgt, Bevölkerungsgruppen als statistische Größe zu erfassen und über Diagramme, Tabellen, Karten und Kartogramme optisch leicht erfassbar zu machen. Mit solchen Mitteln wurde die Vertriebenenfrage symbolisch als »Problem« breitenwirksam präsentiert und dies wiederum im In- und Ausland teilweise kritiklos rezipiert. Dabei zeigt Ruhkopf, wie diese Visualisierungen mit Suggestionen arbeiteten, also einer »Gleichzeitigkeit von Genauigkeit und Verzerrung«.
Neben dem lesenswerten Blick auf das umfangreiche wissenschaftspolitische Engagement des Ministeriums legt Ruhkopf aber etwa auch besonderes Augenmerk auf die bisher kaum beachtete außenpolitische Betätigung des BMVt. Diese ist mit dem Namen des polyglotten und fähigen Ministerialdirigenten und Netzwerkers Werner Middelmann eng verbunden, der es verstand, NGOs und politische Kreise vor allem in den USA zu aktivieren, und versuchte, diese für die Sichtweisen der Regierung Konrad Adenauers einzunehmen. Dies gelang auch, indem die Vertriebenenfrage mit dem Kampf gegen den Kommunismus verknüpft wurde, an dessen Zurückdrängung beide Seiten brennend interessiert waren.
Ruhkopfs Studie ist sehr gut strukturiert, liest sich in den theoretischen und behörden-historischen Kapiteln phasenweise allerdings etwas mühselig, was wiederum von den bemerkenswerten Erkenntnissen zur vielseitigen Tätigkeit des BMVt im Kontext der frühen Bundesrepublik aufgewogen wird.
Ruhkopf, Jan: Institutionalisierte Unschärfe. Ordnungskonzepte und Politisches Verwalten im Bundesvertriebenenministerium 1949–1961
Wallstein Verlag, Göttingen 2023, 480 Seiten
ISBN 978-3-8353-5499-9