Herr Rancis, Sie sind Fremdenführer in Libau/Liepāja. Wie erzählt man die nicht mehr offensichtliche deutsche Geschichte der Stadt?
Man muss sie tastend erzählen. Es ist nicht so, dass jemand danach fragt. Die deutsche Geschichte ist zwar da – in den Fassaden, in den Kirchen, auf alten Karten –, aber im Stadtbild wird sie kaum mehr erklärt. Wenn ich deutschsprachige Gäste durch Libau führe, versuche ich, ihnen zu zeigen, was einmal war und was oft weh tut: Ich erzähle von der Vergangenheit, nicht von der Gegenwart. Wir haben heute vielleicht eine Handvoll Deutsche in der Stadt – das war einmal anders. Die Stadt hatte eine deutsche Seele. Das ist für viele Letten eher ein fremdes Kapitel.
Woran liegt es, dass sich viele Letten mit dem »deutschen« Teil der Stadtgeschichte Libaus so schwertun?
Das hat viele Gründe. Erstens leben wir Letten seit der Wende mit einer Art nationalem Wiederaufbauprojekt. Nach fünfzig Jahren Sowjetzeit wollten wir uns neu definieren – aber da hat man sich vor allem auf das Eigene konzentriert, nicht auf das Gemeinsame. Wir haben die Geschichte nicht wirklich neu gelesen. Viele sagen, wir hatten 700 Jahre deutsche Herrschaft in Lettland. Für viele ist es ein fremdes Kapitel. Wir sehen das deutsche Erbe noch nicht als unseres an. Erst langsam wird es auch als Teil unserer Geschichte gesehen, es ist im Prozess, aber das dauert. Wir sind stolz auf 400 Jahre Stadtgeschichte Libaus – aber identifizieren uns selbst erst seit hundert Jahren mit dieser Stadt. Da gibt es eine kognitive Dissonanz, wie ich es nenne.
Sie meinen damit die Zeit nach 1918, als es mit der Unabhängigkeitserklärung erstmals einen lettischen Staat gab.
Ja, da spielte auch Libau in den Wirren der Zwischenkriegszeit eine große Rolle. Die Stadt war sogar kurzzeitig Regierungssitz. Unsere provisorische Regierung ist nach Libau geflohen, als Riga von den Bolschewiki bedroht wurde. Präsident Kārlis Ulmanis hatte hier sein Hauptquartier auf einem Schiff im Hafen – das war symbolisch und real zugleich: Lettland existierte damals im Prinzip auf einem Boot. Und das Boot lag vor Libau. Das sind Dinge, die selbst viele Letten nicht wissen – geschweige denn die Gäste. Für die lettische Staatsgründung war Libau ein wichtiger Ort, aber in der nationalen Erzählung wird das nicht so betont. Riga dominiert alles, dabei war gerade hier an der Küste ein wichtiger Ort für die lettische Staatlichkeit.
Gibt es für Sie einen Ort in der Stadt, der besonders viel erzählt vom einstigen Glanz und dieser verschwundenen deutschen Geschichte Libaus?
Ja, zwei Orte fallen mir da sofort ein. Die Dreifaltigkeitskirche und das Hotel de Rome. Beide erzählen auf ihre Weise von einer Zeit, die man heute nicht mehr sieht – aber wenn man genau hinschaut, kann man sie noch erahnen. Die Dreifaltigkeitskirche war früher das Zentrum der deutschen Gemeinde. Dort wurde auf Deutsch gepredigt, dort fanden Konzerte statt, dort war Leben. Bis vor einigen Jahren gab es noch regelmäßig deutschsprachigen Gottesdienst. Ich zeige die Kirche eigentlich immer bei meinen Führungen, weil sie etwas ganz Zentrales ausdrückt: Dass es hier einmal eine starke deutschsprachige Kultur gegeben hat. Jedenfalls gibt es noch viele alte deutsche Schilder in der Kirche, etwa beim Spendenbeutel. Und dann das Hotel de Rome. Es wurde vom berühmten Stadtbaumeister Paul Max Bertschy entworfen. Das war ein Treffpunkt, ein Symbol. Wenn ich mit Gästen dort stehe, sehe ich manchmal in ihren Augen, dass sie sich vorstellen können, wie das war – obwohl es mittlerweile gut rekonstruiert ist. Und ich sage dann: Städte vergessen nicht, sie erinnern sich leise. Beide Orte, die Kirche und das Hotel, sind für mich wie Fenster in eine andere Zeit. Man muss nur wissen, wo man hinschaut – und was man erzählen muss, damit sie wieder sprechen. Auch spreche ich gerne über die alten Straßennamen. Viele Besucher wissen nicht, dass die Stadtentwicklung bis 1914 durchgehend deutsch geprägt war. Die heutigen Namen wurden in der Sowjetzeit ersetzt, und erst nach der Wende sind einige zurückgekommen. Wenn ich den Leuten sage, dass es früher eine Ulrichstraße gab, staunen sie.
Der besagte Bertschy wurde 1840 in Strausberg bei Berlin geboren und kam 1871 als Stadtarchitekt nach Libau. Wird seiner Arbeit heute gedacht?
Interessierte kennen den Namen als jenen des wohl bekanntesten Vorkriegsarchitekten, aber die meisten Menschen in Liepāja kennen Bertschy nicht mehr – obwohl er unser Stadtbild geprägt hat wie kaum ein anderer. Als Stadtbaumeister hat er Dutzende Gebäude entworfen: Schulen, Wohnhäuser, Verwaltungsbauten, darunter eben auch das Hotel de Rome. Paul Max Bertschy ist ein gutes Beispiel dafür, wie sehr das deutsche Erbe in unserer Stadt präsent ist. Doch es braucht Menschen, die das erzählen. Sonst verschwindet auch das, was eigentlich noch da ist.
Die meisten Touristen dürften heute vor allem wegen Karosta nach Libau kommen, oder? Da kann man sogar im alten Gefängnis übernachten …
Ja, Karosta ist das bekannteste Ziel für Touristen – aber meiner Meinung nach auch das fremdeste, zumindest für die Einheimischen. Ursprünglich war es der Kriegshafen der russischen Marine, Ende des 19. Jahrhunderts angelegt – mit Kasernen und einer prächtigen orthodoxen Kirche. Bis Anfang der neunziger Jahre war es Sperrgebiet und wurde im unabhängigen Lettland zu einem Problemviertel. Manche Einheimische meiden den Stadtteil bis heute. Vor allem westliche Touristen finden die sowjetische Bausubstanz, die Ruinen und natürlich das alte Militärgefängnis, in dem man übernachten kann, reizvoll. Karosta zeigt deutlich, was mit dieser Stadt passiert ist: Zarismus, Sowjetzeit, Umbruch – alles liegt dort offen sichtbar nebeneinander.
Hier lebten vor dem Zweiten Weltkrieg die Deutschbalten neben den Letten und Juden und Russen. 1939 wurden die Deutschbalten umgesiedelt und mussten Lettland verlassen. Wie sieht man das heute?
In der ersten lettischen Republik, also in den 1920er und 1930er Jahren, waren viele Letten unglücklich darüber, dass die Deutschen wirtschaftlich so dominant waren. Ein gewisses negatives Bild der Deutschen hat sich in dieser Zeit in der Tat eingegraben. Wir standen 700 Jahre unter deutscher Herrschaft, ja, aber das waren andere Zeiten. Das Verhältnis war angespannt. Aber mit den Deutschbalten ist nicht nur eine Bevölkerungsgruppe gegangen, sondern auch eine Mentalität – und ein wesentlicher Teil der damaligen Intelligenz des Landes. Wenn wir heute zurückblicken, sehen wir, dass uns etwas fehlt. Ich meine damit eine westliche Kultur, ein gewisses zivilgesellschaftliches Denken. Nach fünfzig Jahren Sowjetzeit sind wir Letten noch immer ziemlich sowjetisiert – in manchen Strukturen und Gewohnheiten. Deshalb wollten wir ja in die EU, um uns aus dem postsowjetischen Raum zu lösen. Doch ein russischer Einfluss ist bis heute spürbar. Wir leben noch immer in Parallelgesellschaften – früher waren es die Deutschbalten, heute sind es die Russischsprachigen in ganz Lettland. Und das trennt uns. Wenn wir etwas aus der Geschichte lernen wollen, dann vielleicht das: Man muss sich einander öffnen – von beiden Seiten.
Sie haben einen Wunsch frei: Was bräuchte es, damit die unsichtbare Geschichte Libaus sichtbarer wird?
Ich sage manchmal halb im Spaß, halb im Ernst: Wir bräuchten eine deutsche Kneipe! Einen Ort, wo man Deutsch hört, wo man sich trifft – einfach einen kulturellen Anker. Es geht mir nicht um Nostalgie, sondern um Verbindung. Deshalb habe ich auch meinen Verein gegründet. Er heißt Jaunliepāja, wie der Stadtteil Neu-Libau. Es geht uns darum, Geschichte im Alltag sichtbar zu machen: Wer hat hier gelebt? Was war das für ein Haus? Welche Sprachen hat man auf dieser Straße gehört? Ich möchte, dass junge Leute verstehen, wie vielschichtig ihre Stadt ist.
Was sollte aus Ihrer Sicht passieren, wenn Liepāja 2027 Kulturhauptstadt Europas wird?
Der Titel ist eine große Chance. Aber auch eine Verantwortung. Wenn man nur Popkonzerte macht und Festivals, dann sind diese schnell vorbei und vergessen. Ich hoffe, dass wir zeigen können, was für eine Tiefe unsere Stadt hat. Und dazu gehört auch die deutsche Vergangenheit und auch die jüdische. Ebenso auch die sowjetische.
Wir sind ein Ort der Brüche – aber auch der Geschichten. Es wäre gut und das wünsche ich mir, dass 2027 nicht nur gefeiert, sondern auch von der Geschichte erzählt wird. Damit die Stadt sich selbst besser versteht.