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Anna Artwińska. © Maks Yasinski

Anna Artwińska, Jahrgang 1977, studierte Polonistik, Slawistik und Journalismus in Posen/Poznań und Freiburg im Breisgau und wurde 2007 mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit promoviert. Im Anschluss war sie Dozentin an der Universität Salzburg, von 2012 bis 2016 forschte sie an der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u.a. Repräsentationen der Shoah, Erinnerung an den Kommunismus, Generationenkonzepte sowie Gender und Postcolonial Studies. Seit 2016 ist sie Juniorprofessorin für Westslawische Literaturen und Kulturen an der Universität Leipzig. Die Fragen stellte Markus Nowak.

Frau Artwińska, ein Schwerpunktthema Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeiten ist die literarische Verarbeitung von Themen wie Holocaust, Krieg und Vertreibung. Schauen Frau und Mann unterschiedlich auf die Thematik?

»Wie es war« ist eine Frage, die man Historikern stellen muss. Kollegen und Kolleginnen aus geschichtlichen Seminaren beschäftigen sich tatsächlich damit, denn sie versuchen, spezifisch »männliche« oder spezifisch »weibliche« Erfahrungen herauszuarbeiten. Ich als Literaturwissenschaftlerin kann nachvollziehen, wie diese Unterschiede in Filmen, literarischen Texten oder anderen kulturellen Artefakten zum Ausdruck gebracht werden. Dabei fallen mir zwei Aspekte ein: Zum einen werden extreme Ereignisse wie Krieg in der Kultur seltener aus einer weiblichen Perspektive dargestellt, zum anderen unterscheiden sich die »männlichen« und die »weiblichen« Erfahrungen stark voneinander. Das erste Problem hat die belarussische Autorin Swetlana Aleksijewitsch in ihrem Buch Der Krieg hat kein weibliches Gesicht sehr gut auf den Punkt gebracht. Was den zweiten Aspekt betrifft, so findet man in den autobiografischen Texten von Frauen andere Schwerpunkte als in Texten von Männern. Da fällt mir auf, dass Frauen anders über die Leiderfahrung berichten. Leid ist in den Erinnerungstexten aus dem Lager oder aus dem Ghetto häufig »die Geschichte der anderen«, das heißt etwa, dass man eher über die Vergewaltigung anderer Frauen schreibt. Man stellt sich oft in die Position einer Beobachterin, man will nichts selbst zugeben oder sich selbst zum Opfer machen. Das kann man nachvollziehen, denn diese extreme brutale Gewalterfahrung ist auch eine Art Trauma, das man zu eliminieren versucht. Das ist wirklich ein sehr deutliches Merkmal.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine Erklärung für die »Beschreibung des Leidens in der dritten Person«?

Ja, es ist ein Versuch, das Trauma von sich wegzuschieben. Jemand, der zum Beispiel die Shoah überlebt hat, steht vor der Aufgabe, wie er oder sie das zum Ausdruck bringen soll. Es gibt kein vergleichbares Ereignis in der europäischen Kultur, auch wenn andere Genozide schon vor der Shoah stattgefunden haben. Das heißt, es gibt keine Narrative, auf die man zurückgreifen kann. Im Fall der weiblichen Erfahrung ist das doppelt kompliziert, denn man ist eine Überlebende, aber man hat andere weitere Erfahrungen machen müssen, von denen man nicht weiß, wie man darüber kommunizieren soll. Die Kultur ist hilflos oder sprachlos. Hinzu kommen noch die patriarchalen Muster unserer Kultur. Denn das weibliche Schreiben ist kulturell negativ belegt: Nicht selten wird dieses Schreiben als zu emotional oder zu affektiv bezeichnet. Häufig heißt es, dass die weibliche Erfahrung nur einen bestimmten Aspekt betrifft und nicht universell genug ist. Die weibliche Stimme wurde in der Kultur lange nicht gehört, ignoriert oder instrumentalisiert. Es liegt somit nahe, dass man sich als Frau nicht sofort als Opfer outen möchte.

Wie sieht die weibliche Sicht auf Geschichte aus?

Die weibliche Perspektive der Geschichte ist nicht die, die von Frauen per se betrieben wird. Ich würde eher dafür plädieren, den Begriff »feministische Wissenschaftstheorie« zu verwenden, die nicht nur von Frauen, sondern auch von Männern betrieben werden kann. Inhaltlich gesehen ginge es hier zum Beispiel darum, weibliche Persönlichkeiten wie Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen oder Politikerinnen, die bislang nicht Gegenstand der Untersuchung waren, in den Vordergrund zu rücken. Ich beschäftige mich mit dem Kommunismus und begrüße Studien, die zeigen, welche Rolle Frauen in der Tschechoslowakei oder in der Volksrepublik Polen gespielt haben. Das ist die Wendung von »his story«, der Geschichte der Männer, zu »her story«, der Geschichte der Frauen und von Frauen. Das ist häufig Basisarbeit, denn erst mal muss geklärt werden, wie man den Kanon revidieren kann. Mann muss zeigen, dass die Geschichte nicht nur von Männern gemacht wurde und dass die weibliche Erfahrung ein Teil der Geschichte ist.

Also durch weibliche Protagonisten

… kann man das Spektrum erweitern. Das ist quasi eine »archäologische« Arbeit, man durchsucht die Archive, um die Frauen, die in der Geschichte eine Rolle gespielt haben, vor dem Vergessen zu bewahren. Hinzu kommt, dass die männliche Perspektive häufig als universelle Perspektive dargestellt wird. Der erste Schritt der feministischen Wissenschaftstheorie ist die Kritik am Status quo. Dann geht es um Studien, die das Ziel haben, Weiblichkeit als solche in der Geschichte präsenter zu machen. Etwa die Rolle der Frau im Kommunismus oder in der Opposition. Es wurde beispielsweise viel über Frauen in der Solidarność-Bewegung geforscht, und so bekam diese Bewegung auch ein weibliches Gesicht. Das ist sehr produktiv, denn ob wir es wollen oder nicht, die Hälfte der Gesellschaft definiert sich als weiblich

Von Herodot über Thukydides bis Mommsen und Droysen: die bekannten Geschichtsschreiber sind aber häufig Männer

… ja, und daher versucht man heute, den Kanon zu ergänzen. Wenn man genauer hinschaut, dann findet man natürlich weibliche Historikerinnen, doch sind sie häufig nicht zur Geltung gekommen. Natürlich kann man Vergangenheit nicht ideologisch umschreiben – die Verhältnisse sind so, wie sie sind, aber ich denke, dass man weibliche Persönlichkeiten in der Geschichtswissenschaft stärker hervorheben sollte, indem man auch ihre Arbeiten zeigt und zitiert. Frauen hatten es besonders in früheren Epochen schwerer, in der Forschung durchzukommen. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen und sich zu fragen, warum wir primär die großen Männer wie Thukydides oder Cicero kennen. Die Antwort ist, dass es zu dieser Zeit keine Möglichkeit für Frauen gab, professionell den Beruf einer Historikerin zu betreiben. Wenn man jedoch genauer hinsieht oder andere Zeiträume betrachtet, entdecken wir durchaus weibliche Perspektiven auf die Geschichte.