Bis 1945 gab es an Oder und Lausitzer Neiße 104 Brücken und Stege. Von den ursprünglichen Bauwerken sind 42 erhalten oder nach dem Krieg wieder aufgebaut worden, wobei sieben davon derzeit geschlos­sen sind. 36 liegen in Trümmern, von 26 fehlt jede Spur, acht wurden seit 1945 an anderen Stellen zusätzlich errichtet. Heute lässt sich die Grenze zwischen Polen und Deutschland an über 43 Orten überqueren. Jede Brücke, ob erhalten oder zerstört, ist mehr als nur ein Bauwerk. Die Brücken sind ein Zeichen – für Verbindung und Trennung, für Verlust und Zuwachs.
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Auf dem Schild zum Gedenken an die ertrunkenen Opfer der Vertreibung wurde das Wort »Flüchtlinge« mutwillig unleserlich gemacht. © Oliwia Drozdowicz

Die Lausitzer Neiße fließt gemächlich dahin, umgeben von Grün, und an ihren Ufern spazieren – auf beiden Seiten – Menschen. Erst die Grenzpfähle, die Schilder an den Brücken und seit Kurzem auch wieder Polizeipatrouillen deuten darauf hin, dass der Fluss, der so friedlich wirkt, eine Staatsgrenze markiert – und dass die Gebäude am anderen Ufer zu einer anderen Stadt und einem anderen Land gehören. In Zgorzelec in Polen und Görlitz auf der deutschen Seite verläuft das tägliche Leben nahezu gleich.

Die Altstadtbrücke – ausschließlich Fußgängern vorbehalten – und die große Johannes-Paul-II.-Stadtbrücke erlauben einen regen und lebendigen Austausch. Ergänzt wird dieser durch den kostenlosen Bahnverkehr, der dank kommunaler Zusammenarbeit über den imposanten Neißeviadukt führt. Das ist und war nicht überall so an den Grenzflüssen Neiße und Oder. Vor 1945 zählte Görlitz fünf Brücken und zwei Stege – sie alle wurden im Krieg zerstört. Zwei von ihnen wurden zwar bald wiederaufgebaut, doch ihre Nutzung blieb stark eingeschränkt. Die Brücke, die heute als Symbol der Zusammenarbeit zwischen Görlitz und Zgorzelec gilt – die Altstadtbrücke –, wurde erst im Jahr 2004 wiedererrichtet. An vielen anderen Orten zeigen verwaiste Brückenköpfe, verwahrloste Brücken und verlassene Dörfer, welche Wucht die Grenzverschiebung vor achtzig Jahren hatte und wie das bis heute nachwirkt.

Als die Siegermächte auf der Potsdamer Konferenz die künftige polnische Grenze nach Westen verschoben, hatte das viele menschliche Tragödien zur Folge. Millionen Deutsche mussten ihre Heimat verlassen, oft zur Flucht gezwungen. Gleichzeitig kamen Polen – Vertriebene aus den östlichen, an die Sowjetunion abgegebenen Gebiete – in die verlassenen Häuser. Auch sie mussten alles zurücklassen, was sie kannten. Die neuen Bewohnerinnen und Bewohner fühlten sich oft nicht wirklich zuhause. Zwischen den Nachbarn herrschte Misstrauen, Schweigen und Ablehnung. Zu tief saßen die Wunden, zu frisch war das erlittene Unrecht auf beiden Seiten. Die einen sprachen von »Heimkehr« oder »Wiedergewinnung«, die anderen von Vertreibung. Man wollte nichts mehr miteinander zu tun haben – und baute gedanklich Mauern statt Brücken. Erst mit der demokratischen Wende und dem EU-Beitritt Polens änderte sich auch die Rolle der Grenzübergänge.

Die Spurensuche beginnt am Dreiländereck zwischen Polen, Deutschland und Tschechien. Unweit der Stadt Zittau ist die Lausitzer Neiße noch schmal, weshalb es dort viele Brücken gab. Dank einer Entscheidung des Offiziersanwärters Dietrich Scholze überstanden die meisten den Zweiten Weltkrieg. Im Rahmen des »Nerobefehls«, mit dem Hitler die Sowjetarmee aufhalten wollte, sollte er mit seiner Einheit die Brücken zerstören, doch letztlich tat Scholze dies nicht, weil er die Brücken seit seiner Kindheit kannte und sie ihm wichtig waren. Nach dem Krieg wurden die Überquerungen gesperrt. Die größte unter ihnen ist der Neißeviadukt in Zittau – eine der größten und ältesten Bahnüberführungen Deutschlands. Das imposante Bauwerk aus Naturstein ist 745 Meter lang und besteht aus 39 Bögen. Es wurde zwischen 1853 und 1859 errichtet. Nur zwei der Bögen überspannen den Grenzfluss selbst, wobei sich der mittlere Pfeiler auf einer kleinen Insel inmitten der Neiße befindet. Der Viadukt ist auch heute noch in Betrieb – vor allem Güterzüge überqueren ihn regelmäßig. Unter ihm gleiten Touristinnen und Touristen in Kajaks dahin und blicken staunend nach oben in die Konstruktion.

Einige Kilometer flussabwärts von Zittau, zwischen den Orten Ostritz und Blumberg/Bratków, befand sich einst der Blumberger Steg, eine hölzerne Fußgängerbrücke. Bereits im 16. Jahrhundert gibt es Hinweise auf ihre Existenz. Auch sie fiel 1945 der Zerstörung zum Opfer. Es ist nicht einfach, den Ort zu finden, an dem die Brücke einst stand – obwohl er ganz in der Nähe des Dorfes lag, führt von deutscher Seite kein Weg dorthin. Dass sich an dieser Stelle einst ein Steg befand, lässt sich nur alten Karten entnehmen. Erst nachdem man sich durch dichtes, hohes Gestrüpp gekämpft hat, stößt man auf seine Überreste: einen gemauerten Mittelpfeiler in der Neiße und ein steinernes Widerlager auf der polnischen Seite.

Wie Görlitz und Zgorzelec wurde auch Forst, mehrere Dutzende Kilometer weiter nördlich in der Lausitz, geteilt. Auf der östlichen Seite lag der kleinere Teil – der Stadtteil Berge. Zunächst erhielt er den polnischen Namen Barszcz, später wurde er in Zasieki umbenannt. Es war keine typische Geschichte einer geteilten Stadt: Anders als in Görlitz-Zgorzelec wurde die rechte Flussseite – also die polnische – in Forst zu großen Teilen abgetragen. Man sagt, dass Gebäude Stein für Stein verschwanden, um als Baumaterial für das zerstörte Warschau zu dienen. Heute besteht Zasieki vor allem aus Bäumen, einzelnen Häusern und breiten Kopfsteinpflasterstraßen. Am Fluss befinden sich noch die Reste alter Brücken. Ihre Teile erinnern daran, dass hier einst auf beiden Seiten Leben pulsierte.

Im früheren Stadtzentrum stehen zwei solche Ruinen. Die Lange Brücke – gebaut 1922, massiv, 170 Meter lang – war einst die Hauptverbindung der Stadt. Nicht weit davon steht der schmale Seufzersteg, der Name stammte von den Seufzern der Bürgerinnen und Bürger, die ihn auf dem Weg zum Finanzamt überqueren mussten. Wäre da nicht ein riesiges Loch in der Mitte und der schlechte technische Zustand der Konstruktion, könnte der Seufzersteg eigentlich noch genutzt werden. Von der polnischen Seite aus kann man die Brücke betreten.

Die Lange Brücke ist leider deutlich stärker zerstört – alle Pfeiler, von denen einige mit Wappen verziert sind, stehen noch, doch die verbindende Brückenkonstruktion fehlt. Mächtige Brocken der Ruine sind in den Fluss gefallen, wo man sie auch heute noch sehen kann. Vor dem Gitter, das den Zugang zur deutschen Seite der Brücke versperrt, steht ein kleines hölzernes Gedenkschild für jene, die bei der Flucht über die Flüsse ertrunken sind. Doch das Wort »Flüchtling« ist nur schwer lesbar – es scheint bewusst verwischt worden zu sein. Seit einigen Jahren diskutieren die deutsche und die polnische Gemeinde über den Wiederaufbau der Brücke zwischen Forst und Zasieki. 2023 wurde das Vorhaben grundsätzlich beschlossen. Auf die Umsetzung warten die Bürgerinnen und Bürger immer noch vergeblich.

Eine andere Brücke, die sich einige hundert Meter weiter nördlich befand, ist heute schwerer zu finden. Von der Fachwerkkonstruktion ist heute nur noch ein Pfeiler übrig, dazu ein Widerlager auf der polnischen Seite und ein entsprechendes Stück auf der deutschen Seite. Weiter flussabwärts liegt direkt am Flussbett ein ziemlich großes Objekt, das wie ein Teil der Fachwerkkonstruktion aussieht. Ist das wohl ein Brückenelement, das dort schon seit achtzig Jahren liegt?

Noch weiter nördlich, zwischen Neurüdnitz und Siekierki, inmitten der Oderlandschaft, spannt sich heute eine imposante Fuß- und Radwegbrücke – die sogenannte Europabrücke. Ursprünglich wurde hier 1892 eine kombinierte Eisenbahn- und Straßenbrücke errichtet, später durch eine reine Eisenbahnbrücke ersetzt. Beide Bauwerke wurden im Zweiten Weltkrieg zerstört. Zwar erfolgte 1956 ein Wiederaufbau der Bahnbrücke zu militärischen Zwecken, doch blieb diese jahrzehntelang ungenutzt. An die Straßenbrücke erinnerten nur die Widerlager und Pfeiler. Erst ein deutsch-polnisches Gemeinschaftsprojekt brachte die Wende: Nach umfassender Sanierung wurde die 860 Meter lange Brücke 2022 als grenzüberschreitender Rad- und Fußweg wiedereröffnet. Heute ist sie Teil des Oder-Neiße-Radwegs und bietet weite Ausblicke über die Oder. Infotafeln erzählen von der wechselvollen Geschichte der Region und machen die Brücke zu einem Ort des Gedenkens, des Wandels und der deutsch-polnischen Annäherung.

Wer heute an den Ufern der Oder oder der Neiße steht und den Fluss betrachtet, sieht nicht nur Wasser, das dahinzieht. Er sieht Geschichten, Schicksale, Entscheidungen. Die Brücken erinnern daran, dass Grenzen sich verändern können – und dass es an uns liegt, was sie bedeuten: ein Hindernis oder eine Einladung. Vielleicht ist das die wichtigste Botschaft dieser Orte: dass aus dem, was einst trennte, etwas Verbindendes entstehen kann.

Oliwia Drozdowicz