Die Stuhlbeine und die Lehne sind aus Eichenholz, der Sitz ist bezogen mit einem dunkelgrün-schwarz gestreiften Stoff. Was auf den ersten Blick bequem wirkt, ist ein Ausstellungsstück im Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg. Und das nicht etwa, weil das Mobiliar zur Ausstattung eines Schlosses zählte. »Dieser Stuhl gehört zu einem Wohnzimmerensemble der Familie Eicke in Goldap,« sagt die Beschreibung, datiert das Exponat auf das Jahr 1915/16 und nennt als Herkunftsort München. Was macht einen Stuhl aus Oberbayern, der in Ostpreußen als Mobiliar genutzt wurde, hundert Jahre später zu einem Museumsexponat? Die Antwort darauf gibt Teil zwei der Objektbeschreibung: »Die Münchener Ostpreußenhilfe von 1915 ließ mit Spendengeldern Zimmereinrichtungen bauen und stiftete sie Einwohnern zerstörter ostpreußischer Orte.«
Doch wieso sammelten Münchener Spenden für Möbel in Ostpreußen oder mit anderen Worten: Was war die Ostpreußenhilfe? Die Beantwortung dieser Frage führt ins Jahr 1914. Schon in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn, im August und September, besetzen russländische Armeen einen großen Teil der östlichsten Provinz des Deutschen Reiches. Bis September kann Ostpreußen zwar wieder befreit werden, aber es folgt wiederum ein russischer Vorstoß bis in die östlichen und südlichen Teile der Provinz. Zwei Mal drang die Front damit in deutsches Territorium ein. »Frankreich und Belgien waren ja das wesentliche Kampfgebiet im Ersten Weltkrieg. Dabei wird die Ostfront gegen Russland gern vergessen«, konstatiert Jörn Barfod. Mittlerweile im Ruhestand, verantwortete er 2006 als Mitarbeiter des Ostpreußischen Landesmuseums eine Ausstellung zu dieser Thematik. »Dass man auf Heimatboden den Krieg erlebte, das war für die Ostpreußen neu.« Mehrere Dutzend Städte und Dörfer wurden zerstört.
Die ostpreußische Bevölkerung war jedoch nicht erst durch den Ausbruch des Krieges und die Kampfhandlungen auf dem eigenen Boden in einer wirtschaftlich zunehmend schwierigen Lage. Der Boden war gut, aber die Landwirtschaft allein konnte die Menschen kaum ernähren. Und die Industrialisierung erreichte die geografisch abgelegene Provinz nur sehr langsam. Eine Landflucht setzte ein, seit der Reichsgründung 1871 sollen Schätzungen zufolge bis 1910 über eine Million Menschen aus der ohnehin schon bevölkerungsschwachen Provinz gen Westen abgewandert sein. Die Kriegshandlungen 1914 und 1915 sowie eine massenhafte Flucht vor der Front sollten die Ausdünnung weiter forcieren: 10 000 Zivilistinnen und Zivilisten verloren ihr Leben, 400 000 Menschen flohen, 10 000 wurden verschleppt. Unter diesem Eindruck sollte spätestens Anfang 1915 der Wiederaufbau angekurbelt werden.
Ein erster Schritt war die Gründung einer staatlichen Kriegshilfekommission in Königsberg noch in den ersten Kriegswochen. Sie sollte eine Bestandsaufnahme der Schäden machen. In den ersten beiden Kriegsjahren stellte der preußische Staat über eine halbe Milliarde Mark für den Wiederaufbau der östlichen Provinz zur Verfügung. Eine erste Aufgabe war die Bestellung der Felder, bevor der Winter einbrach, um die Ernährung sicherzustellen. Die Armee stellte dafür Truppenteile zur Verfügung. Parallel entstanden deutschlandweit über sechzig Hilfsvereine, die Patenschaften für einen kriegszerstörten Landkreis oder eine verwüstete Stadt übernahmen. Pionier war dabei der Schöneberger Kriegshilfeverein aus Berlin. Schon im Oktober 1914 wurde eine Patenschaft mit Gerdauen (heute russ. Schelesnodoroschny) begründet.
Initiator war Bernd Freiherr von Lüdinghausen (1864–1930). »Kein gebürtiger Ostpreuße«, sagt Barfod. »Aber er hat die Region sehr schätzen gelernt«, stellt er über die Motivation Lüdinghausens fest. Der Berliner Jurist war unter anderem Hilfsbeamter in Ostfriesland, von 1900 bis 1908 Landrat von Gumbinnen (heute russ. Gussev) in Ostpreußen und ging dann in seine Heimatstadt zurück, um Polizeipräsident von Wilmersdorf und Schöneberg zu werden. Dieser heutige Berliner Stadtteil war nicht nur Begründer der Patenschaftsidee, 1915 konstituierte sich hier auch die »Ostpreußenhilfe, Verband deutscher Kriegshilfsvereine für Ostpreußen«. Weitere Patenstädte waren beispielsweise Köln für Neidenburg (heute poln. Nidzica), Wiesbaden für Eydtkuhnen (heute russ. Tschernyschewskoje), Mannheim für die Stadt Memel/Klaipėda und Bremen für die damals östlichste Stadt des Reiches Schirwindt (heute russ. Kutusovo).
Als »eine erste große Solidaritätsaktion« bezeichnet der aus Lodz/Łódz stammende Historiker Jan Salm die Ostpreußenhilfe. Mit einer Monografie zum Wiederaufbau ostpreußischer Städte gilt er in Polen als einer der Experten in Sachen Ostpreußen. »Die Ostpreußenhilfe zeigte, dass nicht nur der Staat, sondern auch die Menschen mit der einzigen angegriffenen Provinz solidarisch waren.« Sein deutscher Kollege Barfod sieht Parallelen, wenn heute Menschen durch Naturkatastrophen Hab und Gut verlieren und ihnen von der Allgemeinheit geholfen wird: »Wenn heute eine Katastrophe passiert – wie im Ahrtal – kommen die Menschen ebenfalls und wollen helfen.«
Um das Spendenvolumen zu fördern, wurden Wohlfahrts-Postkarten herausgegeben. Diese stellten nicht etwa die berühmte unberührte Natur Ostpreußens dar, sondern die zerstörten Städte und Dörfer. Bis auf die Grundmauern wurden Städte wie Neidenburg oder Gerdauen zerstört – und so dargestellt. »Das war ein Stück weit Propaganda, um zu zeigen, wie schlimm es vor Ort aussieht. Das regte das Mitgefühl und die Spendenbereitschaft an«, sagt Barfod. Ähnlich wie in heutigen Fundraising-Kampagnen, die über Emotionalisierung die Spendenbereitschaft ankurbeln. Die berühmte Königliche Porzellan Manufaktur in Berlin (KPM) stellte zudem sogenannte Patenschaftsteller her. Sie wurden an Spender verkauft oder an Wohltäter mit größeren Zuwendungen als Geschenk ausgegeben. Sie sind heute ein anschauliches Zeugnis der damaligen Solidaritätsaktion. Klar, dass auch im Lüneburger Museum neben den Möbelstücken das KPM-Porzellan ausgestellt ist.
»Ich weiß mich mit jedem Deutschen eins, wenn ich gelobe, dass das, was Menschenkraft vermag, geschehen wird, um in Ostpreußen neues frisches Leben aus den Ruinen entstehen zu lassen«, steht auf diesen Tellern neben den Wappen der Patenschaftsgemeinden und dem Wappen der Provinz Ostpreußen geschrieben. Es sind die Worte von Kaiser Wilhelm II. aus einem Telegramm vom 16. Februar 1915 aus Lötzen (heute poln. Giżycko) an Reichkanzler Theobald von Bethmann-Hollweg. Sie wurden zu Werbezwecken genutzt, um die Spendenbereitschaft zu erhöhen. Die Verzahnung von privaten Organisationen und staatlichen Behörden hatte populäre Fürsprecher in Form des am Anfang des Krieges noch populären Kaisers. Das sei die Besonderheit und begründe den Erfolg der Solidaritäts-kampagne, resümiert Steffen Wiegmann in der Begleitpublikation zur Ostpreußenhilfe-Ausstellung.
Übrigens wurde zwar ursprünglich Geld gespendet, aber oftmals auch Wohninventar gekauft und gen Osten verschickt. So etwa im Fall der Münchener Ostpreußenhilfe. Sie unterschied sich von anderen dadurch, dass kein Geld in das durch die Ereignisse zerstörte Land geschickt wurde, sondern mit den gesammelten Mitteln Hauseinrichtungen beschafft wurden. Rund 1 000 Zimmereinrichtungen sollen im Zuge der Aktion der »Münchener und Landshuter Möbelhilfe« finanziert worden sein, die in Dutzenden Eisenbahnwaggons in die Ostprovinz geschickt wurden.
Durch das Fundraising der Ostpreußenhilfe kamen nach Schätzungen von Wiegmann bis Mai 1916 rund zwölf Millionen Reichsmark zusammen. Sie ergänzten die staatliche Aufbauhilfe der Bevölkerung und dienten dem Wiederaufbau Ostpreußens. Neben Privatspenden aus dem Reich stifteten auch Deutsch-Amerikaner Beiträge für verschiedene Siedlungsvorhaben. Aus Wien, Ungarn und sogar Schweden floss Geld. Das ländliche Ostpreußen wurde vor dem Ersten Weltkrieg zwar als »Kornkammer des Reiches« paraphrasiert und war nicht arm. Dennoch war es rückständig geblieben. Erst im Zuge des Wiederaufbaus – auch aus Mitteln der Ostpreußenhilfe – gelang ein Modernisierungsschub, etwa durch Elektrifizierung, moderne Neubauten im damals weit verbreiteten, durch lokale Merkmale charakterisierten Heimatschutz-Stil und weitere Maßnahmen. »Ostpreußen ist schlussendlich eine recht moderne Provinz geworden, viel moderner als andere Ecken Deutschlands damals«, sagt Barfod.
Ob das auch der Ukraine bevorsteht, die seit zwei Jahren dem Angriff Russlands trotzt und in der Städte wie Tschernihiw oder Bachmut in Trümmern liegen? Ähnliche Solidaritätsaktionen wie die Ost-preußenhilfe laufen bereits seit den ersten Tagen des Angriffs, auch und gerade im Ausland. Eine wei-tere Parallele ist, dass jetzt schon Wiederaufbaukonferenzen stattfinden, die sich über die Zukunft des Landes Gedanken machen. Bleibt zu hoffen, dass der Krieg sich nicht so lange hinzieht wie der Erste Weltkrieg, der von Historikern als »Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts« gesehen wird.