Ungewissheit. Ein Leben lang. Im Fall von Gisela Launert schon seit achtzig Jahren. Oder noch länger? Beim Geburtsdatum beginnt sie bereits, die Ungewissheit. »Laut Pass bin ich rund vier Jahre jünger, ich müsste jetzt 84 Jahre alt sein. Aber ich weiß es nicht.« Lediglich an ihren Namen kann sie sich erinnern, dass sie aus der Nähe von Tilsit, dem heutigen Sowetsk, stammt und dass der Vater zum Militär eingezogen war, als die Front am Ende des Zweiten Weltkrieges Tilsit näherkam. Die Erinnerungsfragmente sind spärlich. »Wir sind mit meiner Großmutter über die Königin-Luise-Brücke geflohen«, sagt sie. »Ich muss damals vier oder fünf gewesen sein.« Ungewissheit. Auch darüber, was mit der Mutter passierte. Womöglich ist sie in den Wirren ums Leben gekommen. Auch an den Namen der mitfliehenden Schwester kann sich Launert nicht erinnern. Diese hatte die Großmutter bei einer anderen Familie zurücklassen müssen. Enkelin Gisela und ihre Oma schlugen sich mit Betteln durch, eines Tages war das Mädchen allein. »Ich ging von Haus zu Haus und fragte nach Essen und nach Obdach«, erinnert sie sich. »Schade, dass ich nicht ins Waisenheim kam.« Denn so wäre sie vielleicht in die Schule gekommen und hätte nicht ihre Kindheit hindurch hart arbeiten müssen. »Eine Kindheit? Die hatte ich nicht«, sagt sie, während sie in ihrer Einzimmerwohnung in Memel/Klaipėda am Couchtisch sitzt und alte Fotos betrachtet.
Gisela Launert © Markus Nowak
Im Regal stehen Bücher mit Titeln wie Vilko vaikai, das litauische Wort für »Wolfskinder«. So werden jene Kinder bezeichnet, die sich am Ende des Krieges elternlos, oft in kleinen Gruppen oder alleine, von Ostpreußen aus nach Litauen durchschlugen. Auch Gisela Launert zählt dazu. »Ich bin stolz, dass ich überlebt habe.« Nach dem Krieg ging sie zunächst nach Pogegen/Pagėgiai, übernahm dort alle Arbeiten, die gerade anfielen. Als sie bei einem alten Ehepaar Obdach fand, wurde sie katholisch getauft und bekam litauische Dokumente. Da war sie 14 Jahre alt und erhielt den litauischen Namen Irena Jakstaitė.
Litauen ist zu dieser Zeit unfreiwillig eine Sowjetrepublik, Deutsch ist verboten. Gisela lernt Litauisch und vergisst ihre Muttersprache. Von den unzähligen anderen Vokietukai, also »kleinen Deutschen«, wie die bettelnden Kinder von den Litauern genannt werden, erfährt sie nicht. Es gibt keine verlässlichen Zahlen darüber, aber man geht davon aus, dass sich 1948 noch schätzungsweise fünftausend deutsche Kinder und Jugendliche in der baltischen Sowjetrepublik aufgehalten haben.
Das Thema war in der Sowjetzeit ein Tabu
Als »Migrationsprozess« bezeichnet die junge litauische Historikerin Rūta Matimaitytė ihre Schicksale. »Manche der Wolfskinder blieben nur kurz in Litauen und gingen später nach Deutschland. Andere blieben ihr ganzes Leben lang in Litauen.« So wie Gisela Launert, die es nicht auf einen der Kindertransporte in den 1950er-Jahren in die DDR oder nach Westdeutschland schaffte. Matimaitytė führte nicht nur Dutzende Zeitzeugeninterviews mit den Wolfskindern, sie beschäftigte sich auch mit der litauischen Perspektive. »Man kann jeden nehmen, der damals Tagebuch geführt hat. Sie alle haben die bettelnden Kinder erwähnt. Diese Migration ist ins kollektive Gedächtnis eingegangen«, stellt sie fest. Dabei wurde seit dem Ende des Krieges bis zur Unabhängigkeit Litauens 1990/91 nicht darüber gesprochen. »Das Thema war in der Sowjetzeit ein Tabu und so sprachen auch die Wolfskinder nicht darüber«, erzählt die Historikerin. »Oft wussten nicht einmal der Ehemann oder die Ehefrau, dass der Partner aus Ostpreußen stammt. Sie sagten einfach, die Eltern seien verschollen.« Massenweise Deportationen nach Sibirien, der Holocaust an 200 000 Juden und zuletzt auch die euphemistisch bezeichnete »Repatriierung« von Zehntausenden Polen aus dem Wilnaer Gebiet – die Bevölkerung des kleinen Litauen war im Zuge des Krieges völlig »durcheinandergeraten« und so fragte keiner nach.
Gisela Launert, die nach ihrer Hochzeit mit 18 Jahren von Irena Jakstaitė zu Irina Bružienė wurde, erzählte zwar ihrem Mann und den Kindern von ihrer deutschen Vergangenheit – der weiteren Verwandtschaft, Freunden und Nachbarn aus Angst allerdings nicht. »Die Kinder konnten kaum glauben, welch schwierige Kindheit ich hatte«, sagt sie heute. Schwere Arbeit, statt in die Schule zu gehen. Erst nach ihrer Hochzeit lernte sie Lesen und Schreiben und durfte schließlich doch noch in die Schule – als Köchin in der Schulkantine.
Auf eine ähnlich harte Kindheit und ein mühevolles Leben blickt auch Waltraut Mindt zurück. Sie sitzt in der modern eingerichteten Küche von Ella Karin Macik, ebenfalls einem »Wolfskind«. Obwohl beide unweit voneinander in Tauroggen/Tauragė leben, kennen sie sich erst seit einigen Jahren. Denn erst nach 1991 begannen sich die Wolfskinder zu organisieren. »Edelweiß« ist der Name des Vereins, in dem sich einige Dutzend der ostpreußischen Kinder aus Memel versammelten. Später kamen Ortsgruppen aus weiteren litauischen Ortschaften dazu, in die es die Wolfskinder nach dem Krieg verschlagen hatte. Von den heute noch lebenden rund dreißig blieben die meisten in Tauroggen und Umgebung.
Waltraut Mindt (l.) besucht Ella Karin Macik (r.) in ihrem Haus in Tauroggen. © Markus Nowak
Ein literarisches Denkmal hat ihnen 2011 bzw. 2015 in deutscher Übersetzung der litauische Lyriker Alvydas Šlepikas mit dem Buch Mein Name ist Marytė gesetzt – und stieß damit in Litauen eine rege Diskussion um die Vokietukai an. Zuvor gab es nur vereinzelte Titel, vor allem deutsche Historikerinnen und Historiker oder Filmemacher beschäftigte das Thema. Im heutigen Litauen stoßen die fast vergessenen Wolfskinder auf ein reges Interesse der Öffentlichkeit. Gerade erst hat das öffentliche Fernsehen LRT eine mehrteilige Doku dazu ausgestrahlt. »Die Litauer mögen das Thema, denn sie können von sich sagen, dass sie den deutschen Kindern geholfen haben«, konstatiert die Historikerin Matimaitytė. Dabei werde vergessen, dass die deutschen Kinder bei den litauischen Familien oft hart arbeiten mussten. »Die Rolle der neuen Familien war nicht immer positiv. Aber es war auch einfach eine schwere Zeit«, erklärt Matimaitytė. Von schweren Zeiten und der nicht immer guten Behandlung durch die Familie kann Waltraut Mindt ein Lied singen. »Es geht alles vorüber, es geht alles vorbei«, stimmt sie an. Eine Handvoll deutsche Lieder kann sie noch singen, mehr ist von der deutschen Sprache nicht im Gedächtnis.
Sie erinnert sich, wie sie als Fünfjährige in Hundehütten schlafen musste und von Haus zu Haus auf der Suche nach Essen umhergeirrt ist. Mit sieben Jahren wurde sie von einer Familie in Šilalė in Samogitien aufgenommen, für die sie die Schafe hüten sollte. »Ich hatte Angst vor dem Wolf, der riss aber nur die Lämmer, mein Fleisch hätte ihm eh nicht geschmeckt.« Ihren Humor hat die 86-Jährige trotz gesundheitlicher Beschwerden nicht verloren. Anders als Gisela Launert, konnte Waltraut Mindt immerhin noch drei Jahre in die Schule gehen. Aber ihre Augen waren schlecht, ihre Noten auch. Sie heiratete jung, bekam sechs Kinder und arbeitete ihr Leben lang in einer der vielen Kolchosen in Sowjetlitauen. Die faltigen Hände sind Jahre später ein Zeugnis des harten Lebens, in dem sie lange Zeit nicht zugeben durfte, wer sie eigentlich ist. Während der Sowjetzeit hieß sie Valerija Čepienė und durfte nicht von ihrer Vergangenheit erzählen, an die sie sich ohnehin kaum erinnern konnte. »Aber ich habe immer gewusst, dass ich eine Deutsche bin.«
Ähnlich erging es ihrer Freundin Ella Karin Macik. Die beiden haben sich im »Edelweiß«-Ortsverband angefreundet, sie eint die gemeinsame Geschichte. »Vokietė, vokietė«, riefen die litauischen Kinder ihr nach, erinnert sich Ella Karin Macik, was einfach nur »die Deutsche« heißt. »Sie haben es ja nicht böse gemeint«, erinnert sich Macik. »Aber ich habe verstanden, dass ich anders bin. Mein Litauisch klang für sie witzig.« »Anders« waren viele Wolfskinder nicht nur im Hinblick auf die Sprache – Litauisch mussten sie ja noch lernen –, sondern auch in Sachen Religion. Ella Karin Macik etwa, die heute Elena Matimaitienė heißt, war wie viele andere Kinder aus Ostpreußen protestantisch, während die Menschen in Litauen zu über achtzig Prozent katholisch sind. Viele Wolfskinder wurden »umgetauft« und wuchsen katholisch auf, Ella Karin Macik dagegen blieb Lutheranerin. Um ihren späteren Mann, der Katholik war, heiraten zu dürfen, musste sie offizielle Stellen um Genehmigung bitten, erinnert sie sich.
Mit Behörden hatten die Wolfskinder im Zuge der Unabhängigkeit viel zu tun. Litauen verabschiedete 1997 ein Gesetz, das den Rechtsstatus von Besatzungsopfern der Jahre 1939 bis 1990 regelte. In diesem wurde auch den Wolfskindern endlich ein Status zuerkannt, mit dem sich höhere Rentenansprüche verbinden. Von deutscher Seite engagierte sich Wolfgang von Stetten als Bundestagsabgeordneter und mittlerweile litauischer Honorarkonsul für Baden-Württemberg für die Sache der Wolfskinder. Etwa wenn es für Umsiedler um die Hürden bei der Einbürgerung in Deutschland ging oder darum, finanzielle Unterstützung über verschiedene Stiftungen zu organisieren. Bei den noch stets geringen litauischen Renten profitieren die mittlerweile betagten »Wolfskinder«, wie Ella Karin Macik in Taurrogen oder Gisela Launert in Memel, enorm von diesen Bemühungen. Das zusätzliche Einkommen bringt einen Schuss Gewissheit in das Leben von Gisela Launert. Endlich.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe Nr. 1427: Januar/Februar 2022
mit dem Schwerpunktthema:
Kindheit