In Gesamteuropa führte ein steigender Lebensstandard Mitte des 19. Jahrhundertanderem zu einem steigenden Konsum importierter Weine. Begünstigt durch die Konjunktur des Freihandels und durch einen raschen Ausbau des europäischen Eisenbahnnetzes verdoppelte sich zwischen 1840 und 1866 der französische Weinexport. Während Wein der gehobenen Preislage als früherer Luxusartikel nun auch Einzug in den Konsumalltag der expandierenden Mittelschichten fand, entstand unter den politischen und sozialen Eliten das Bedürfnis nach Abgrenzung und damit nach neuen Symbolen des Luxus. Zum »Passierschein in die damalige Elite« entwickelte sich der moussierende Wein aus der Champagne, der »Champagner«. Königsberg, russ. heute Kaliningrad, hatte für diesen Handel eine besondere Bedeutung, denn die Stadt exportierte ein Drittel der hier eingehenden deutschen, französischen und südeuropäischen Weine weiter in das Russische Reich. Der Siegeszug hatte bereits 1814 eingesetzt, als kurz nach dem Ende der Kontinentalsperre der Champagnerhändler Ludwig Bohne 10550 Flaschen Veuve Clicquot zu hohen Preisen in Königsberg absetzen konnte, bevor er in St. Petersburg begeistert empfangen wurde. An seine Auftraggeberin, die Witwe (Veuve) Clicquot schrieb er, dank »Ihres Nektars liegen Ihnen zwei Drittel der besten Gesellschaft Königsbergs zu Füßen«.
»Deutscher Champagner« aus Grünberg
Die Weinproduktion in Grünberg ging wie auch in anderen Regionen Schlesiens und der Mark Brandenburg im 19. Jahrhundert allmählich zurück, da es aufgrund verbesserter Transportmittel immer schwieriger wurde, mit klimatisch begünstigteren Weinregionen zu konkurrieren. Der Grünberger Wein hatte zudem mit dem ungerechtfertigten Ruf zu kämpfen, besonders sauer zu sein, und ließ sich folglich nur schwer überregional absetzen. Beim Schaumwein lag die Sache anders. In Reaktion auf den Siegeszug des französischen Champagners entwickelte sich in deutschen Ländern in den 1820er Jahren eine florierende Produktion von Schaumweinen, die häufig unter dem Namen »Deutscher Champagner« vermarktet wurden. Sie hatte ihre Ursprünge in Esslingen am Neckar und in Grünberg, wo 1826 ein Vorgänger der später deutschlandweit bekannten Sektkellerei Grempler & Co. gegründet wurde. Damit »hatte die Siegesbahn der Befreiung vom schmählichen Joch des moussierenden Franzosenthums« begonnen – wie es in einer zeitgenössischen Darstellung hieß. Ausgeblendet wurde dabei, dass Kellermeister aus der Champagne einen bedeutenden Anteil an diesem Aufstieg hatten. Der Grünberger Moussée jedenfalls erlangte bald europaweites Renommee und wurde 1855 auf der Pariser Weltausstellung mit einer Medaille ausgezeichnet.
Champagner und Sekt hatten sich Mitte des 19. Jahrhunderts als moderne Luxuskonsumgüter etabliert. Damit einher ging jedoch auch ein Anstieg der Verfälschung dieser Produkte.
Weinproduzenten mischten bereits in der griechischen Antike verschiedene Stoffe unter den Rebensaft, womit sie ohne Zweifel die Lebensdauer des Weines, nicht aber die des Trinkers erhöhten. In der Neuzeit stellte Weinverfälschung gerade in Ost- und Ostmitteleuropa ein weit verbreitetes Phänomen dar, denn einerseits genossen französische Weine hohes Prestige, andererseits verleiteten hohe Zoll- und Transportkosten einige Weinhändler dazu, diese Ausgaben zu drücken. Dabei lag es nahe, entweder das Originalgetränk am Zoll vorbei ins Land zu schmuggeln, das Produkt in seiner Zusammensetzung zu verfälschen, vulgo zu panschen, oder aber Wein anderer Herkunft falsch zu etikettieren. So berichtete das französische Konsulat in St. Petersburg im Februar 1857, dass der Rigaer Zoll im Dezember des Vorjahres 61 Kisten geschmuggelten Schaumweins sichergestellt habe, den zwei Händler aus Königsberg in Ostpreußen und Tauroggen/Tauragė im Russischen Reich gemeinschaftlich ins Land gebracht hatten. Die Flaschen waren als Veuve Clicquot etikettiert und trugen auch das Firmenemblem, ihr Inhalt jedoch war anderer Herkunft und ließ sich auf den Weinproduzenten Kroefft in Danzig zurückverfolgen. Das Konsulat empfahl dem französischen Außenminister, bei Verhandlungen mit dem Russischen Reich zu erreichen, dass französische Marken auch dort geschützt würden, denn bisher könne man »nur bedauern, dass in dieser Hinsicht ausländische Produzenten in Russland keine reelle Garantie gegen die dortige missbräuchliche Verwendung ihrer Marken und Etiketten« besäßen.
Brombeersaft und Bleizucker
Im Januar 1866 wurde der französische Vizekonsul von Königsberg auf Annoncen in der Presse aufmerksam, in denen Champagner der Marke Schreider aus Reims zu einem äußerst günstigen Preis von einem Taler pro Flasche angeboten wurde. Zur selben Zeit informierten zwei renommierte Königsberger Weinhändler über einen möglichen Etikettenschwindel. Eigens einberufene Sommeliers erhärteten den Verdacht, woraufhin der Konsul den Königsberger Polizeipräsidenten um eine Anklage ersuchte. Der Vertreter Frankreichs brachte sein großes Vertrauen in das »Gerechtigkeitsgefühl der preußischen Behörden« zum Ausdruck und stützte dieses auf das »neue internationale Recht mit Preußen«. Insgesamt waren vier Weinhändler in diesen Skandal verwickelt, wobei neben Schreider auch Etiketten der bis heute renommierten Champagnerproduzenten Veuve Clicquot, Louis Roederer und Heidsieck gefälscht wurden.
Tatsächlich stellten Weinpanscherei und Etikettenschwindel jenseits der pekuniären Interessen auch ein Gesundheitsproblem dar. Verhältnismäßig harmlos war da noch der in Warschau verkaufte »französische« Wein. So handelte es sich dabei in den meisten Fällen um eine Zusammenstellung von Branntwein aus Kartoffeln und gemeinem ungarischen Wein, gefärbt mit einer Tinktur des Blutholzbaumes und Brombeersaft. Schwerer wogen andere Arten von Weinverfälschung, wie der Zusatz von Bleizucker bzw. Bleiacetat, der bei regelmäßigem Genuss zum Tode führte. Zu Laboratorien gefälschter Weine entwickelten sich zum einen Hafenstädte und zum anderen einige Weinproduzenten in ihrem Bemühen, die Qualität bzw. die Quantität zu steigern. In den 1860er Jahren waren unter anderem Hamburg, Danzig sowie Grünberg als Orte für Weinverfälschung bekannt.
Der schlechte Ruf des Grünberger Weines fiel anfangs auch auf die Sektproduktion zurück, was einen Etikettenschwindel begünstigte. Eine 1848 erschienene Darstellung verwies darauf, dass man »öffentlich den Grünberger Champagner nur der Curiosität wegen [trank], um ihn zu belächeln, in den geistreichen Mode-Spott der sogenannten feinen Welt einstimmen zu können. […] erschien er umhängt mit den Lappen fremdländischer Etiquettes, kostete er dreimal mehr, als das mißachtete Vaterland ihn mit Freuden dem beglückten Feinschmecker verkauft hätte.«
Internationales Recht gegen den Eigennutz
Das vom französischen Vizekonsul in Königsberg angeführte internationale Recht bezog sich auf den Handelsvertrag zwischen Frankreich und dem Deutschen Zollverein, der am 1. Juli 1866 in Kraft trat. Darin werden Angehörige aller Vertragsstaaten hinsichtlich des Schutzes ihrer Fabrik- oder Handelszeichen nach dem Gegenseitigkeitsprinzip den Einheimischen gleichgestellt. Damit hatten also auch Inhaber in Frankreich geschützter Marken das Recht, in Preußen gegen Etikettenschwindel vorzugehen. Eine ähnliche Klausel war auch im Handelsvertrag zwischen Frankreich und Russland von 1857 verankert – offensichtlich hatten Berichte wie derjenige des französischen Konsuls in Warschau durchaus Erfolg. Zuvor beschränkten sich Regelungen bewusst nur auf den Inländerschutz, auch um den Absatz einheimischer Produkte zu fördern.
Der Ausgang des Rechtsstreits um den imitierten französischen Champagner in Königsberg zeigt, dass es nicht die Sorge um die Konsumierenden war, die Champagnerhäuser, Vize-Konsul und preußische Behörden zum Handeln bewegte. Es ging einzig und allein um die Frage des Schutzes französischer Marken in Preußen. Zwar ließ sich die Herkunft des falsch etikettierten Weins nicht ermitteln – die Grünberger Herkunft bleibt Spekulation. Gemäß Preußischem Strafgesetzbuch und der Gleichstellung französischer Produzenten jedoch wurden die vier Weinhändler am 3. Oktober 1866 »ein jeder mit einer Geldstrafe von (50.) Fünfzig Thalern« bestraft. Damit blieb das Gericht im untersten Bereich der möglichen Strafen, sandte aber doch ein deutliches Signal gegen internationale Markenpiraterie aus.
Etikettenschwindel im Champagnerhandel blieb weiterhin verbreitet, insbesondere als Wein in den 1870er und 1880er Jahren aufgrund der Reblausplage knapp und teuer wurde. Auch die Bezeichnung von deutschem Schaumwein als »Deutschem Champagner« war weiterhin üblich und führte zu den Artikeln 274 und 275 im Versailler Vertrag – dem sogenannten Champagner-Paragrafen, mit dem diesem Vorgehen ein Ende bereitet wurde.
Gremplers Schaumwein aus Grünberg war bis 1945 überregional begehrt. Wenn auch die neuen polnischen Einwohner nur noch wenig Schaumwein produzierten, erhielten sie doch die Tradition von Weinfesten, Weinanbau und -produktion, die seit den frühen 2000er Jahren eine Renaissance feiert.