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Insassinnen des Arbeitshauses Rummelsburg in Berlin arbeiten an Nähmaschinen. Aufnahme um 1890. © Ullstein Bild

von Roswitha Schieb

Als die sozialkritische Agitatorin Agnes Wabnitz 1894 starb, waren mehr Menschen zugegen als beim Begräbnis Kaiser Wilhelms I. sechs Jahre zuvor. Früh schon plädierte Agnes Wabnitz als Nicht-Jüdin für die Achtung vor den Juden, setzte sich für die arbeitenden Frauen ein und flehte in diesem Zusammenhang geradezu: »Käme doch ein einziger gesunder Geist über alle Menschen!« Ihre flammenden Reden, die ihr deutschlandweit eine enorme Popularität bescherten, trugen unter anderem aktiv dazu bei, den freien Sonntag für die Arbeiter zu erkämpfen. Auch gegen den im Wilhelminismus verbreiteten Antisemitismus zog sie mit ihren Reden zu Felde.

Agnes Wabnitz wurde 1841 im oberschlesischen Gleiwitz/Gliwice als Tochter eines wohlhabenden Gasthausbesitzers geboren. Schon sehr früh war ihr religiöse Toleranz selbstverständlich. So fiel sie einmal in ihrer Jugend in den Klodnitz-Kanal und wäre beinahe ertrunken, wenn nicht ein vorbeikommender Passant sie gerettet hätte. Wie Wabnitz schrieb, ein Jude: »Ich selber protestantisch, der gute Retter mosaisch, und für uns Beide brachten römische Christen dem unbekannten Gotte Dankgebete! Es ist mir zum Symbol geworden.« Nach dem plötzlichen Tod des Vaters stand sie mittellos da und musste zunächst ihr Geld mit Näharbeiten verdienen. Ihr Zwischenspiel als Lehrfräulein für die Tätigkeit einer Gouvernante im russischen Polen »auf einem Landedelsitz« war nicht von langer Dauer. Denn dort lernte sie, laut Bertha Glogau, die »Tyrannenherrschaft des Adels« kennen, dem es einerlei war, ob er Pferde oder Knechte vor die Kutsche spannte und wo sie als Deutsche, die »unter die Schweine« gehöre, grob beleidigt wurde. Als sie kündigte, verweigerte ihr der Hausherr ihren Lohn. Erstmalig in ihrem Leben trat sie in einen Hungerstreik, was derart ungewöhnlich, ja schockierend wirkte, dass sie schließlich ihr Geld erhielt.

Eine Frau des Wortes

Sie zog nach Berlin zu ihrem Bruder, der im oberschlesischen Königshütte/Chorzów das Proletarierelend kennengelernt hatte und überzeugter Sozialdemokrat Eine von nur wenigen Fotografien der Frauenrechtlerin. © Archiv AdsD/Friedrich-Ebert-Stiftunggeworden war. Er arbeitete in Berlin als Bücher-Kolporteur, hausierte also mit Druckwerken, mit Kalendern, Fortsetzungsromanen und Kolportageschriften. Aufgrund des Arbeiterelends allerorts drängte es Agnes Wabnitz bald von der Nähmaschine zur Tribüne. Nach rednerischen Anfangsschwierigkeiten entfesselte sie schon mit ihrem dritten Vortrag zum Thema Königs- und Gottes-Idee – inspiriert von ihrem großen gedanklichen Lehrmeister Ludwig Feuerbach – Begeisterungsstürme in der Zuhörerschaft.

Schriftliches hat Agnes Wabnitz, stolz-bescheiden wie sie war, nicht hinterlassen. Es kam ihr auf die Wirkung im Moment an und darauf, dass jeder ihrer Zuhörer, vor allem auch jede ihrer Zuhörerinnen etwas Substantielles aus ihren Vorträgen mit nach Hause nehmen konnte. Besonders richtete sie sich an Frauen, so in ihrem Vortrag zum Thema Die Frau in der Industrie, einer Ansprache, in der sie die ökonomische Theorie von Karl Marx an Arbeiterinnen weiterzugeben versuchte. Mittlerweile war sie derart populär, beliebt und geachtet, dass ihr Hauswirt, laut Bertha Glogau, erzählen konnte: »Sie kann sich unter Gesindel, unter Strolche, unter Raubmörder wagen. Sobald ihr Name genannt wird, zieht jeder vor ihr den Hut und keiner tut ihr ein Leid!«

Agnes Wabnitz setzte sich leidenschaftlich für die Entstehung des »Fach-Vereins der Berliner Mantelnäherinnen« ein. In einer Zeit, in der es für Frauen gesetzlich verboten war, sich politisch zu betätigen, engagierte sie sich für das Programm der Arbeiterinnen-Bewegung, in dem es um die Gleichstellung von Mann und Frau, die rechtliche Unabhängigkeit der Frau, die Verbesserung der ökonomischen Lage, den gesetzlichen Schutz der Frauenehre und die Beseitigung der Prostitution ging.

Schon früh gelang es Agnes Wabnitz, das Publikum für sich und ihre Position einzunehmen und zu begeistern. So heißt es in einem späteren Nachruf: »Die ganze Erscheinung der Wabnitz hatte etwas Theatralisches. Trotz der hohen dünnen Fistelstimme drang sie durch: bei dem Feuer, das sie beseelte, machte sie Eindruck auf die Massen.« Auch Bertha Glogau, die die Aktivistin des Öfteren bei ihren öffentlichen Reden erlebt hatte, beschreibt Wabnitz’ gesamte Ausstrahlung in ihrem Büchlein als »herb-keusch«. Voller Anerkennung lässt Bruno Schönlank in seinem Roman Agnes (1929) ihre Nachbarin zu Agnes Wabnitz sagen: »Sie sprechen ja, daß die gekrümmten Frauen kerzengrade hinausgehen.«

In ihren Ansprachen, die durch die Spitzeltätigkeit der Polizei bestens dokumentiert sind, konnte sie sich sehr über Unrecht, über jegliche Ungerechtigkeit erregen. Auch gegen den Ungeist einer bigotten Religion, gegen das »Pfaffentum«, gegen »unsittliche Fragen in den Beichtstühlen«, die den Mädchen vorgelegt wurden, kurz, gegen religiöse »Heuchelei« ergriff sie das Wort.

Radikal selbstbestimmt

Als sie nach bereits elfjähriger Vortragstätigkeit 1891 in Frankfurt am Main, dieser »Metro­pole der Bourgeoisie«, sprach, erhielt sie ihre erste Freiheitsstrafe für acht Tage. Immer wieder pochte sie darauf, dass die Frauenfrage nicht vernachlässigt werden dürfe, da sie sich auch unter ihren sozialdemokratischen Parteigenossen als Frau nur als »ein Wesen zweiter Gattung« fühle. In Frankfurt hatte sie während eines Streiks der Buchdrucker gesprochen und gesagt: »Die kapitalistische Produktionsweise wütet ärger als Löwen und Hyänen, denn sie verschlingt ihre eigenen Kinder.« Die Anklage lautete auf »Aufreizung«, und sie wurde in eine Zelle gesperrt.

Staatlicherseits wurde von Ärzten ein Zeugnis über ihre angebliche Geisteskrankheit angefordert, nachdem sie im Gefängnis in einen Hungerstreik getreten war. Viermal war sie im Gefängnis, insgesamt elf Monate lang. Zur Last gelegt wurde ihr die Beleidigung der Kirche, denn sie hatte darauf hingewiesen, dass »die christliche Kirche die unehelichen Kinder verstoße, aber dennoch die Lehre auf[stelle], daß Christus außer der Ehe geboren sei.« Weiterhin hatte sie, die auf dem Formular zu ihrer Verhandlung unter »Konfession: Dissidentin« angab, sich zu ihrem Ausspruch bekannt: »Trauen Sie dieser Gottheit, da sie duldet, daß 20 Millionen Menschen auf der Landstraße liegen und verhungern!… Es gibt keinen anderen Gott als den Gott Mammon und der regiert heute unter uns.«

In ihrer zwei Monate währenden Zeit im Gefängnis im Jahr 1892 trat sie in einen Hungerstreik. Von Seiten des Gerichts in die Charité überwiesen, wurde sie mittels eines Gummischlauchs qualvoll zwangsernährt und daraufhin ins »Dalldorfer Irrenhause« eingeliefert, wo sie physisch zusammenbrach. Da sie, die sehr groß war, nur noch 44 Kilogramm wog, wurde sie für ein halbes Jahr ins Krankenhaus am Friedrichshain gebracht. Nach ihrer Entlassung strebte die Staatsanwaltschaft an, sie zu entmündigen. Doch da die Ärzte ihr keine geistige Trübung bescheinigen konnten, wurde das Entmündigungsverfahren aufgehoben. Sie schöpfte neue Hoffnung und fing wieder an, Vorträge zu halten. Aber da sie nun nicht für unzurechnungsfähig erklärt worden war, musste sie doch noch ihre zehnmonatige Haft antreten. Bevor sie wieder ins Gefängnis gehen sollte, verkaufte sie bereits einen Teil ihrer Möbel und hielt noch Vorträge zu Themen wie Die Frau in der Gewerkschaft, Idee der Freiheit, Das Recht der Frau in der heutigen Gesellschaft oder Die Gewerkschaftsbewegung und die Bildung des Volkes. In atemloser Unrast war sie auf Vortragsreisen in ganz Deutschland und verhielt sich, so schreibt Klaus Kühnel in seiner 2008 erschienenen Biografie, wie eine »Parteisoldatin«: »Sie zieht in den Krieg gegen überhebliche Männer in den eigenen, den sozialdemokratischen Organisationen […], gegen ungerechte Entlohnung und politische Entmündigung, gegen die Not der Proletarierinnen und die Verlogenheit der Kirche, die eine gebärende Jungfrau verherrlicht, ein gebärendes ›Fräulein‹ hingegen verdammt.«

Ihr Schlusswort vor der Gewerkschaft der Instrumentenmacher wurde zu ihrem Testament für alle Genossen Deutschlands, das auch bis in die christlichen Kapitalistenkreise dringen sollte. Hier preist sie in höchsten Tönen den jüdischen Freiheits- und Gleichheitsgedanken: »Von den Juden kommt die Freiheit. […] Nur ein Volk, das in all seinen Schichten die persönliche Freiheit über Alles liebte, konnte auch den erhabenen Lehrer der Gleichheit, Christus, konnte noch achtzehn Jahrhunderte später die neuen Verkünder der Brüderlichkeit – Marx und Lassalle – erzeugen.«

Am 28.August 1894 beging die Frauenrechtlerin auf dem Friedhof der Märzgefallenen Selbstmord, auf dem »Freiheitsacker«, und zwar am Grab mit der Aufschrift »Ein unbekannter Mann«, das für Agnes Wabnitz das »vornehmste aller Gräber« darstellte. Sie tötete sich mit Zyankali. Den Grund für ihren Selbstmord sieht Bertha Glogau in ihrer Angst vor dem Gefängnis, denn neunzig Prozent der Insassen waren Prostituierte, was die ebenso streng wie hochsensibel empfindende Agnes Wabnitz nicht ertragen hätte. Zwar blutete »ihr Herz […] um das Elend ihres Geschlechts«, aber es war ihr »unmöglich, es täglich in seiner frivolsten Form vor sich zu sehen«.

Eine Straße in Berlin-Prenzlauer Berg ist seit 2000 nach Agnes Wabnitz benannt. © Markus Nowak

Der größte Schweigemarsch der Geschichte

Vierzehn Jahre nach ihrer ersten missglückten, da befangenen Rede wurde ihr nun an ihrer Gruft auf dem Friedhof der Freireligiösen Gemeinde an der Pappelallee die Huldigung eines Reichstagsredners zuteil, grüner Lorbeer wurde ihr zu Ehre dargebracht und rote Bänder flatterten tausendfach durch die Luft. Die Beteiligung am Begräbnis wurde zum bis dahin größten Schweigemarsch der Geschichte, geradezu eine Völkerwanderung. Alle Straßen in der Nähe und der große Friedhof selbst waren, so berichtet Bertha Glogau, Kopf an Kopf gefüllt: »Neun Tage lang ist keine Scholle Erde auf sie gefallen. Die rote Blütenpracht stieg von ihrem Sarg bis zur Höhe der Friedhofsmauer empor.« 630 Kränze ihr zu Ehren – beim Begräbnis Kaiser WilhelmsI. waren es 550 gewesen – kamen nicht nur aus Berlin, sondern auch aus Frankfurt an der Oder, Görlitz, Halle, Spremberg, Frankfurt am Main, Dresden, Stettin, Leipzig, Altenburg, Haynau, Magdeburg, Kassel, Bernburg und Braunschweig. Die Kranzschleifen, darunter auch eine schwarze von Berliner Anarchisten, wurden später in einem eigens dafür eingerichteten Glaskasten auf dem Friedhof ausgestellt.

Ein Begräbnis, das in aller Stille hätte stattfinden sollen, das sich aber doch nicht verheimlichen ließ, wurde zu einer stillen Demonstration all der Massen, die Agnes Wabnitz im Laufe ihrer Rednertätigkeit zu begeistern gewusst hatte. Bruno Schönlank spricht in seinem Roman vom »Sturmgeist der Agnes, der lange noch wie eine Feuersäule vor den dunklen Massen ging.«

Trotz vieler Nachrufe in prominenten Presseorganen ist sie vergessen worden, und zwar so gründlich wie nur möglich. Vielleicht auch deswegen, weil sie, eine Vorgängerin Rosa Luxemburgs und Clara Zetkins, keine Theoretikerin war und keine Schriften hinterlassen hat. Immerhin wurde am 23. Oktober 2000 am Prenzlauer Berg eine Straße nach ihr
benannt.

Auf ihrem Grabmal, das bis heute auf dem Friedhof an der Pappelallee steht, ist zu lesen:Wabnitz’ Grabstein auf dem Friedhof der Freireligiösen Gemeinde in Berlin-Prenzlauer Berg. © Drstefanschneider/Wikicommons

Edelsinn, Biederkeit war deine Zier

Wahrheit, Gerechtigkeit hieß dein Panier,

Ob du im Grab auch liegst

Es klinget fort und fort

Wacker dein Losungswort:

Freiheit du siegst.

Und noch etwas anderes ist hier zu lesen. Der Spruch über dem Ausgang des Friedhofs ist von einer beißenden Wucht: »Schafft hier das Leben gut und schön, / kein Jenseits ist’s, kein Aufersteh’n.«

Schön wird ihr Leben wohl kaum gewesen sein, wenn man an die Gefängnis-, Irrenanstalts-, Krankenhausaufenthalte und an ihren Selbstmord denkt. Gut aber hat sie ihr Leben geschafft, jedenfalls, wenn man es mit moralischen Maßstäben misst. Sie hat gewirkt in ihrer Zeit, Veränderungen himmelschreiender sozialer Ungerechtigkeiten angestoßen, Menschen, vor allem Frauen, aufgeklärt, gestärkt und begeistert. Ohne an Gott, an ein Jenseits zu glauben, hat sie den göttlichen Funken weitergegeben. Sie selbst aber hat nichts hinterlassen. Sie ist gestorben ohne sichtbare Spuren ins kollektive Gedächtnis eingegraben zu haben. Das Leben im flammenden Moment war ihr genug. Sie ist ebenso radikal verschwunden, wie sie gelebt hat.