Die Samtene Revolution in der Tschechoslowakei wurde für die deutsche Minderheit zur Zerreißprobe. Von Ralf Pasch
November 2019 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1409
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Die Demonstration am Wenzelsplatz am 22.11.1989 war Teil der »Samtenen Revolution«. © Mevald Karel /CTK

Das Jahr 1989 war auch für die deutsche Minderheit im heutigen Tschechien ein Wendepunkt. Zwanzig Jahre zuvor hatten die Deutschen im Ergebnis des Prager Frühlings neue Rechte und Freiheiten erlangt, unter anderem gründeten sie einen Kulturverband. Doch dort gärten politische Konflikte, die im Zuge der »Normalisierung« eskalierten: Führende Aktivisten wurden ausgeschlossen. 1989 holte dieser Konflikt die Minderheit wieder ein – und sie drohte auseinanderzubrechen.

Rund drei Millionen deutschsprachige Bewohnerinnen und Bewohner wurden nach dem Zweiten Weltkrieg aus der Tschechoslowakei vertrieben. Etwa 200000 konnten bleiben. Freilich sprachen ihnen die Beneš-Dekrete die Staatsbürgerschaft ab. Und anders als die übrigen Minderheiten – Ungarn oder Polen etwa – durften sie keinen Verband gründen. Ab 1949 konnte die Staatsbürgerschaft auf Antrag wiedererlangt werden, wovon wenige Deutsche Gebrauch machten, 1953 wurde sie von der Regierung für alle Staatenlosen angeordnet.

Dieses »Hickhack« war für viele Angehörige der Minderheit ein Grund, das Land zu verlassen, meist gen Bundesrepublik. Dieser Exodus zwang die Kommunistische Partei zu einer neuen Politik gegenüber der deutschprachigen Bevölkerung. Eine Folge war 1951 die Gründung einer Zeitung, die im Jargon der Zeit Aufbau und Frieden genannt wurde und die »Verbliebenen für den Sozialismus gewinnen« sollte, erinnerte sich später Fritz Schalek (1913–2006), einer der ersten Redakteure.

In der Minderheit bildeten sich zwei Lager: Die einen verlangten, mehr Rechte gegenüber dem Staat einzufordern – etwa eigene Schulen. Die anderen warnten vor dem »Aufflammen des nationalen Chauvinismus«. Die Fronten verhärteten sich, politische Konflikte schwelten, doch zunächst noch ohne Folgen.

Nach der Ablösung von Antonín Nowotný als Erstem Sekretär der Kommunistischen Partei durch Alexander Dubček, der einen »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« anstrebte, stellte sich die Prager Volkszeitung, wie Aufbau und Frieden inzwischen hieß, auf die Seite der Reformer. »Liebe deutsche Leser der Volkszeitung, auch für Euch hat eine bessere Zukunft begonnen!«, verkündete die Zeitung. Auch in der DDR fand sie guten Absatz. »In Dresden ist sie am ersten Tag an jedem Kiosk sofort vergriffen«, schreibt ein Leser. Zwei Ausgaben durften jedoch auf Weisung der SED nicht ausgeliefert werden. Schalek hatte den DDR-Chefideologen Kurt Hager in einem Artikel aufgefordert: »Kommen Sie nach Prag!« Der DDR-Politiker, der den Genossen im Bruderland vorgeworfen hatte, sie hätten sich vom Westen korrumpieren lassen, solle sich – verlangte Schalek – vor Ort davon überzeugen, dass der Prager Frühling eine im Land gewachsene Reformbewegung sei. Schalek wurde 1968 Chefredakteur der Volkszeitung. Im Reformjahr wurden die Deutschen offiziell als nationale Minderheit anerkannt. Journalisten der Volkszeitung bereiteten in Leserkonferenzen die Gründung eines Verbandes vor. Schalek hat später »nie wieder eine solche Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Tschechen erlebt«.

Im August 1968 marschierten sowjetische Truppen in Prag ein und besetzten auch die Redaktion der Volkszeitung. Die Walter Piverka (2015 im Begegnungszentrum Komotau / Chomutov) war maßgeblich an der Gründung der Landesversammlung beteiligt und zeitweise deren Präsident. © Tomáš Randýsek / LandesEcho PragRedakteure gingen in die Provinz, um sie dort zu produzieren. Mit der Niederschlagung des Prager Frühlings war der Aufschwung für die deutsche Minderheit nicht beendet. 1969 gründete sich der Kulturverband (KV), Schalek nennt ihn ein »Kind des Prager Frühlings«. Er wird in den Vorstand gewählt, der KV hat schnell 5000 Mitglieder. Mit dem parteilosen Walter Piverka (1931–2015), ebenfalls im KV-Vorstand, sitzt ein Deutscher im Nationalrat der Tschechoslowakei.

Die Gründung des Verbandes wurde innerhalb der Minderheit wie außerhalb, etwa in der benachbarten DDR, argwöhnisch beäugt. In Schreiben, die zwischen linientreuen Funktionären der Minderheit und der DDR-Regierung hin- und hergingen, wurde etwa Schalek als »Rädelsführer« und »Rechter« bezeichnet. Die Volkszeitung sei unter seiner Leitung ein »Zentrum antisozialistischer Bestrebungen« geworden. Die nach dem Ende des Prager Frühlings eintretende »Normalisierung« hatte für die vermeintlich antisozialistischen Aktivisten schwerwiegende Folgen: Schalek wurde aus dem KV ausgeschlossen, als Chefredakteur der Volkszeitung entlassen und aus der Kommunistischen Partei entfernt. Piverka verlor außer seinem Posten im KV-Vorstand und seiner Arbeit als Redakteur der Volkszeitung auch sein Nationalratsmandat.

Die Führung des KV wurde mit linientreuen Kommunisten besetzt. Wie in der gesamten tschechoslowakischen Bevölkerung kam es nach der gewaltsam beendeten Reform auch unter den deutschsprachigen Bewohnern zu einer neuen Ausreisewelle, mehrere Tausend verließen das Land Richtung Westen. Mitte der Achtzigerjahre war, so der tschechische Historiker Tomáš Staněk, die »deutsche Nationalität nicht mehr zur Reproduktion fähig«, weil etwa die Hälfte ihrer Angehörigen älter als fünfzig war.

Neuanfang mit Hindernissen

Im Herbst 1989 kam es in den Ländern des Ostblocks immer häufiger zu Demonstrationen gegen die kommunistischen Regime – auch auf dem Prager Wenzelsplatz. In der Tschechoslowakei sammelten sich die Reformkräfte in einem Bürgerforum, in dem sich eine Minderheitenkommission mit einer Sektion für die Deutschen bildete. Walter Piverka war einer der Akteure, der sich vor allem für die Minderheitenrechte einsetzte. Er traf sich in jenen bewegten Tagen mit zwei anderen der 1970 ausgeschlossenen Gründungsmitglieder des Kulturverbandes: Fritz Schalek und Arnold Keilberth. Und zwar »um zu beraten, was getan werden kann, ja muss, damit dieser Umbruch auch für die deutsche Minderheit im Lande einen Neubeginn darstellt«, erinnerte sich Piverka später. »Fritz Schalek vertrat die Ansicht, dass – so wie im Jahre 1968, während des Prager Frühlings – die Redaktion der Prager Volkszeitung aktiv werden müsse, um die Wende zu unterstützen. Er nahm sich vor, als ehemaliger Chefredakteur in die Redaktion zu gehen und die Redakteure dazu aufzurufen.« Das geschah dann auch: Im Dezember besuchte Schalek spontan die Redaktion und wies darauf hin, dass es mit der führenden Rolle der Kommunistischen Partei vorbei sei und man über eine Reform im KV nachdenken müsse. Die Redakteure ließen sich nicht beeindrucken und praktizierten »business as usual«.

Fritz Schalek (rechts) in der Redaktion der 1951 in der Tschechoslowakei gegründeten deutschsprachigen Zeitung Aufbau und Frieden. Er war ein Aktivist der deutschen Minderheit, der 1970 wegen angeblicher antisozialistischer Umtriebe in Ungnade fiel. Nach 1989 war er erneut politisch in der Minderheit aktiv. © Collegium Bohemicum, Aussig /Ústí nad Labem

Im Januar 1990 trafen sich die Reformer um Schalek und Piverka erneut mit Vertretern des KV. Ihre Forderungen waren nun konkreter: Wahl einer neuen Führung und Rehabilitierung der 1970 Ausgeschlossenen. Das lehnten die Funktionäre ab. Erst kurz darauf, im Februar, lenkte der Verband ein: »Der Zentralausschuss rehabilitiert alle Funktionäre und Mitglieder des Verbandes, die in den Jahren 1969/70 aufgrund ihres politischen Verhaltens geschädigt und verfolgt wurden.« Ihnen wird auch die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft und die weitere Mitarbeit angeboten.

Doch die einst Geschassten gingen längst eigene Wege, planten eine neue Organisation: Der »Verband der Deutschen in der Tschechoslowakei« (VdD) wurde im April vom Innenministerium registriert. Die Prager Volkszeitung, in der Piverka und Schalek einst gearbeitet hatten, schien für neue Ideen nicht zugänglich. Deshalb wurden Flugblätter gedruckt. Im Sommer entstand mit der Deutschen Zeitung ein zweites Blatt für die Minderheit. Nach zehn Ausgaben musste es aber wieder eingestellt werden. Innerhalb des im Aufbau befindlichen VdD bildete sich eine Gruppe, die Verbindungen zum KV aufnahm und sich »Verband der Deutschen – Kulturverband« nannte. Die drohende Spaltung wurde jedoch verhindert. Der VdD gründete sich im August offiziell in Prag. Im südböhmischen Budweis/České Budějovice wurde ein erstes Begegnungszentrum aufgebaut. Im Herbst gründete der VdD einen Dienstleistungsbetrieb, der nicht nur Bauarbeiten aller Art ausführte, sondern auch eine Zeitung herausgeben wollte. Der neue Verband bekam immer mehr Zulauf, 1991 eröffnete er eine »Grundschule der deutsch-tschechischen Verständigung« in Prag.

In vielen Regionen entstanden wie in Prag neue Verbände der Minderheit. Der KV erhielt seine vor 1989 existierenden »Grundorganisationen« aufrecht, was in einigen Gegenden dazu führte, dass KV-Gruppen neben neuen bestanden und man Gefahr lief, sich gegenseitig das Wasser abzugraben. 1992 gründete sich in Reichenberg/Liberec die Landesversammlung (LV) der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien, die ein Dachverband für die regionalen Verbände werden sollte – auch für den KV. Doch: »Die verantwortlichen Gremien«, hieß es in einer Verbandspublikation, »konnten sich unter den gegebenen Bedingungen nicht zu einem Beitritt entschließen.« Im Laufe der folgenden Jahre kam es zu einer Annäherung. 1997 vereinbarten LV und KV: »Beide Organisationen unterlassen ab sofort gegenseitige schriftliche wie auch mündliche Ausfälle.«

Die LV baute einen Jugendverband auf, in dem neben Vertretern der deutschen Minderheit auch Tschechen Mitglieder sind, die sich für deutsche Sprache und Kultur interessierten. Im KV gelang es nicht, eine Nachwuchsarbeit aufzubauen. 2005 wurde die Prager Volkszeitung, aus der der KV 1969 hervorgegangen war, wegen finanzieller Probleme eingestellt. Die LV gibt heute mit dem Landesecho eine eigene Wochenzeitung heraus, der KV ein Info-Blatt. Aktuell sitzt jeweils ein Vertreter von KV und LV im Rat der Minderheiten, der die tschechische Regierung berät. Freilich betrachten sich immer weniger Einwohner Tschechiens als Deutsche: Bei der jüngsten Volkszählung 2011 waren es rund 19000, zehn Jahre zuvor waren es noch etwa doppelt so viele. Die LV beziffert ihre Mitglieder auf 7000, der KV gibt 900 an. Die einst verhärteten Fronten sind aufgeweicht: 2016 unterzeichneten die Vorsitzenden beider Verbände eine Kooperationsvereinbarung.