Er beherrscht fast ein Dutzend Sprachen und Dialekte. Wenn es um Sprach- und Dialektforschung geht, kommt man an Heinrich J. Dingeldein nicht vorbei. Im Interview spricht er über die Herkunft, die Situation und Zukunft von deutschen Mundarten im östlichen Europa.

Heinrich J. Dingeldein | Foto: © Markus NowakFoto: © Markus Nowak

Er spricht Französisch, Englisch, kann Latein, Altgriechisch, Hebräisch, Jiddisch, Esperanto, Afrikaans, Rumänisch und Rheinfränkisch. Wenn es um Sprach- und vor allem um Dialektforschung geht, kommt man im deutschsprachigen Raum an Heinrich J. Dingeldein nicht vorbei. Er studierte u. a. Deutsche Sprache und Literatur und legte das Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien ab. Es folgten Magisterexamen in Linguistik in San Marino, Promotion in Marburg/Lahn und 1997 die Habilitation. Jahrelang arbeitete Dingeldein am Deutschen Sprachatlas und dem Hessen-Nassauischen Wörter-buch. Seit den neunziger Jahren war er als Gastprofessor an mehreren Hochschulen in Ungarn und Rumänien tätig. Im Interview mit Markus Nowak spricht er über Dialekte und die Forschung daran.

 

Herr Professor Dingeldein, es gibt da dieses Sprichwort: »Eine Sprache ist ein Dialekt, mit einer Armee und einer Marine« …

… das ist von Max Weinreich, der in Marburg 1923 promovierte und an einem Sprachatlas des Jiddischen arbeitete.

Was ist damit gemeint?

Sprache hat mehrere Bedeutungen. Es gibt die Zeichensprache, die Sprache der Delfine, Sprache auch als Zeichensys-tem. Aber die gesprochene Sprache, die dem Menschen eigen ist – mit Stimme, Lippen, Zunge und dem Sprechorgan – kann Welten in den Köpfen entstehen lassen. Das ist Sprache in ihrer vielgestaltigen Bedeutung. Mit der Kodifizierung in Wörterbüchern und Grammatiken, also der Normierung als eine eigentlich nicht zu verändernde, aber sich selbst doch stetig verändernde Sprache, ist noch eine andere Bedeutung entstanden: nämlich das Gegenteil von Sprache, der Dia-lekt. Er ist nicht von der Obrigkeit reglementiert, sondern die Leute entscheiden – ohne dass sie darüber abstimmen oder ohne dass darüber ein Gesetz besteht –, wie sie sprechen wollen.

Versteht man als Dialekt-Forscher alle deutschen Dialekte?

Es ist immer so, dass die »Überdachung Sprache« in gewisser Weise die Verständigung ermöglicht. Man versteht die grammatischen Strukturen, also Strukturen der Wortgrammatik und der Satzgrammatik. Man kann sie erkennen, aber das muss nicht heißen, dass man sie auch spricht. Ich verstehe zum Beispiel die Zimbern aus der Nähe von Verona nicht, deren Sprache jener des althochdeutschen Hildebrandslieds noch ähnlich ist. Ein Schweizer versteht in der Regel einen Friesen nicht. Der Schweizer kann in der deutschen Schriftsprache reden, auch wenn er sie nicht im Alltag spricht, son-dern einen Dialekt des Schweizerdeutschen.

Wie entstehen Dialekte?

Wir hatten ein Symposium zur Theorie des Dialektes, und dabei sind wir darauf gekommen, dass Dialekt eine Sprache ist, die von einer zu definierenden Gemeinschaft gesprochen wird, die nicht standardisiert und vorgeschrieben ist, und bei der man zu der in diesem Gebiet vorherrschenden Standardsprache eine maximale Regeldistanz findet. Es finden darin dialektale Wandelprozesse statt, die der Sprachatlas seit 1876 zu erfassen versucht – etwa im Kartenbild. Darauf kann man sehen, dass dort, wo ein gemeinsamer Verkehr herrscht, sich die Sprache vereinheitlicht und dort, wo Verkehr behindert wird – also beispielsweise durch breite Flüsse, Gebirge oder politische Grenzen – eben nicht. Im deutschsprachigen Raum gab es nach der Reformation zudem auch noch Konfessionsgrenzen. Dialekt ist immer eines der wesentlichen Elemente gewesen, mit dem sich Gemeinschaften definiert haben …

Wie werden Dialekte vermittelt?

Es muss eine Gemeinschaft da sein, die den Dialekt spricht. Und diese Gemeinschaften brechen momentan radikal weg. In meiner Ausbildungszeit etwa gab es eine Lehrergeneration, die Dialekt als Sprachbarriere begriff und dachte, er wäre linguistisch betrachtet ein Humbug erster Güte. Wobei es sehr interessant ist, dass man in der sprachlichen Entwicklung immer von »Muttersprache« spricht. Dabei ist es nicht die Sprache der Mutter, die die Kinder sprechen, sondern die der Sprachgemeinschaft – der Peer-Group. Früher kamen die Ehefrauen in der Regel nicht aus dem Dorf selbst, sondern hatten von außen eingeheiratet – Exogamie. Und trotzdem blieb der Ortsdialekt gleich.

Der Kindergarten oder die Schule sind also die eigentlichen Dialekt-Schmieden …

… ja, in der kindlichen Spielgemeinschaft. Aber in beiden wird eben jetzt immer weniger Dialekt weitergegeben. Wenn es um die Integration der Zuwandernden geht, gehört eben mit dazu, dass sie ein gutes Deutsch beherrschen. Unser Dorf beispielsweise ist nach dem Krieg auf 900 Einwohner gewachsen, weil viele Sudetendeutsche zugezogen sind. Deren Kinder lernten sehr schnell unseren Dialekt und waren integriert. Mittlerweile ist es aber so, dass die Zuwanderung nur noch in vorgegebenen Mustern läuft und alle Hochdeutsch sprechen sollen. Ich werde oft zu Veranstaltungen eingeladen und gebeten zu erklären, wie der Dialekt erhalten werden kann. Meine Antwort ist: Gegen das Aussterben der Dialekte kann keiner etwas machen. Das ist die von Hegel so schön beschriebene »Eule der Minerva«, die erst in der Dämmerung anfängt zu fliegen. Das ist mit den Dialekten genauso: Erst wenn sie verschwinden, fällt allen auf, dass sie erhalten wer-den sollten. Wenn sie aber gelebt werden, sind sie eine so klare, alltägliche Selbstverständlichkeit, dass man sich darüber keinen Kopf macht.

Aber es gibt Gebiete, in denen verstärkt Dialekt gesprochen wird, anderswo weniger. Wie kommt das?

Es hat sich herausgestellt, dass die Dialekte dort am lebendigsten sind und sich gleichwohl verändert haben, wo die Wirtschaft am stärksten ist. Wo die Wirtschaft am schwächsten ist und man in einen Rückstand geraten ist, dort verschwinden die Dialekte. Weil nämlich auch das Selbstbewusstsein verloren geht, das zu Dialekten dazugehört. Wenn Sie vor 15 Jahren hier bei mir zu Gast gewesen wären und wir hätten meine Nachbarin getroffen, dann hätten Sie diese in Alltagstracht gesehen. Die trug man damals noch.

Das ist jetzt alles weg. Die lebendigsten Dialekte findet man vor allem bei den Schwaben, in Bayern und auch in der Mannheim-Ludwigshafener Gegend. Der Anteil der Dialektsprecher ist relativ hoch, wo es ein gutes Einkommen gibt und den Stolz, aus einer bestimmten Region zu stammen. Dort hat sich das Bewusstsein gehalten, das man auch hören darf, wo jemand herkommt. In den ärmeren Gegenden entwickelte sich das Bewusstsein, dass man neutral sprechen muss, damit man überall, wo sich eine Chance bietet, eine Arbeitsstelle finden kann.

Kam es im Zuge von Flucht und Vertreibung zur Vermischung der Dialekte, wenn etwa Vertriebene auf Einheimische trafen?

Ja, in sehr unterschiedlicher Art und Weise. Zum Beispiel war im gesamten mittelhessischen Raum – das kann ich genera-lisieren – der Zuzug der Flüchtlinge ein Anlass dafür, den eigenen mittelhessischen Dialekt infrage zu stellen. Sobald je-mand etwa aus dem Sudetenland in einer Gesprächsrunde dabei war, sprach man Hochdeutsch. Bei mir im Dorf gibt es einige Sudetendeutsche. Wenn die aufeinandertreffen, fangen die an in ihrem Dialekt zu sprechen. Das ist einfach so, weil die Umgebung stimmt und ein Partner da ist. Aber nach dem Krieg wurden die Leute bewusst nicht kompakt ange-siedelt, sondern zerstreut. Man wollte sie nicht zu einer politischen Einheit werden lassen, damit niemand auf die Idee kommt, geschlossen wieder in die alten Gebiete umsiedeln zu wollen. Auf Veranstaltungen wie bei den Sudetendeut-schen Tagen oder innerhalb der Familie sprachen die Leute noch Dialekt. In der nächsten Generation ging das schon nicht mehr.

Wie ist das für einen Sprachwissenschaftler, wenn Dialekte, die über Hunderte von Jahren gewachsen sind, plötzlich wegfallen?

Dann sind sie fort. Als die Völkerwanderung stattfand, sind auch Dialekte verschwunden. Daran kann sich niemand mehr erinnern. Es tut nur denjenigen leid, die etwas verlieren – also, die den früheren Zustand kennen. Für jüngere Generatio-nen ist das kein Problem, weil sie einfach keinen Dialekt mehr sprechen.

In den Sechzigern war das der ausschlaggebende Grund für das große Projekt »Deutsches Spracharchiv«, in dem Ver-triebenen-Dialekte aufgenommen wurden. Im westlichen Deutschland, in der Bundesrepublik, hat man im Abstand von vierzig Kilometern Dialekte auf Tonband aufgenommen, und zwar von der alteingesessenen Bevölkerung jeweils eine ältere Person und eine jüngere Person, aber auch von den Flüchtlingen aus dem Osten. So konnte man feststellen: Der kommt aus Oberschlesien, jener aus Ostpreußen, dieser ist ein Ungarndeutscher oder er kommt aus dem Banat. Aus einem wissenschaftlichen Grund wollte man die Dialekte konservieren, also unsere Mustersätze, die vierzig Wenkersätze zur Erhebung von Dialekten, mit denen man alle grammatischen Formen herausanalysieren kann.

Die Vertriebenen haben sich in sogenannten Heimatstuben versammelt. Konnte man die Dialekte nicht auch erhalten?

Ein Spinnrad ist ein Spinnrad, um damit Wolle zu spinnen. Der Dialekt ist ein Dialekt, solange man ihn spricht. Wenn das Spinnrad in ein Museum kommt und darunter ein Schild steht »Bitte nicht berühren«, weil man es bewahren will, dann ist es kein Spinnrad mehr, sondern ein Ausstellungsobjekt. Und so muss man das auch mit dem Dialekt sehen. Sobald ein Dialekt nicht mehr über die Lippen geht, weil er nicht mehr gesprochen wird, besteht er nicht mehr weiter.

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