Rezension | Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hrsg.): Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern
Januar/Februar 2021 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1421

Buchcover: Kateřina Čapková, Hillel J. Kieval (Hrsg.): Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern

Von Ralf Pasch

Jüdinnen und Juden lebten über Jahrhunderte zwischen Deutsch und Tschechisch sprechenden Bewohnern der böhmischen Länder. Viele von ihnen beherrschten beide Sprachen und changierten zwischen diesen Lagern, die sich ab dem 19. Jahrhundert immer feindseliger gegenüberstanden, weil der Nationalismus an Fahrt aufnahm.

Jüdisches Leben im Gebiet des heutigen Tschechien, so glaubt man gemeinhin, spielte sich vor allem in der Hauptstadt Prag ab. Das hier vorzustellende Buch bricht mit diesem Klischee. Jüdisches Leben war und ist eben mehr als Golem und Kafka. Ein neunköpfiges Team von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus Tschechien, Ungarn, den USA und Deutschland verspricht im Vorwort »eine umfassende Geschichte der Juden der böhmischen Länder« – und löst dies auch ein.

Schon das Cover geht gegen gängige Sichtweisen an: Es zeigt den Ausschnitt einer Postkarte aus der Zeit um 1900 mit einer Ansicht von Teplitz/Teplice. Das nordböhmische Kurstädtchen hatte bis zur Shoa ein reiches jüdisches Leben, die auf dem Cover abgebildete Synagoge war bis zu ihrer Zerstörung eine der größten in Böhmen. Wichtiger als Gebäude sind den Autorinnen und Autoren der 400 Seiten jedoch Menschen und deren Geschichten. Ein solches Schicksal vermittelt ein auf den ersten Blick harmloses Foto von 1947: Die aus der heutigen Ukraine stammende und zu diesem Zeitpunkt in Aussig/Ústí nad Labem lebende Gertrud Adler hält im rechten Arm ihren kleinen Sohn. Auf dem linken Unterarm ist die Nummer zu sehen, die ihr in Auschwitz eintätowiert wurde. Ihr Mann baute nach 1945 die neue jüdische Gemeinde in Aussig mit auf. Das Buch endet nicht mit dem Holocaust, sondern macht deutlich, dass es danach wieder jüdisches Leben in den böhmischen Ländern gab.

Das Pendant zu der weitgehend unbekannten jüdischen Kultur in Nordböhmen sind die jüdisch geprägten Orte in Mähren. In Trebitsch/Třebíč wurde das jüdische Quartier UNESCO-Weltkulturerbe. In Nikolsburg/Mikulov befand sich die größte Gemeinde Mährens. Hier wirkte der berühmte Rabbi Judah Löw, der Legende nach Schöpfer des künstlichen Lehmmenschen Golem.

Jüdisches Leben in Böhmen und Mähren wies viele Besonderheiten auf. So erkannte die 1918 gegründete Erste Tschechoslowakische Republik »jüdisch« als Nationalität an, neben der deutschen und tschechischen. Dieses Bekenntnis war nicht an die Religion gebunden, man konnte auch in einem kulturellen Sinne jüdisch leben. Die Publikation zeichnet jedoch kein verklärtes Bild des tschechoslowakischen Weges, sie wirft etwa auch ein Schlaglicht auf die antisemitisch geprägten Slánský-Prozesse nach 1945.

Es ist diesem Buch zu wünschen, dass es viele Leser findet, wenn auch die grafische Gestaltung an einigen Stellen verbesserungsbedürftig ist. Auf einem Stadtplan von Prag z. B. kann man lediglich die Moldau erkennen. Doch das sind Kleinigkeiten mit Blick auf den wertvollen Inhalt. Das Werk erscheint nun auch auf Englisch, zudem werden eine tschechische und eine hebräische Fassung vorbereitet.

Čapková, Kateřina; Kieval, Hillel J. (Hrsg.): Zwischen Prag und Nikolsburg. Jüdisches Leben in den böhmischen Ländern, Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen 2020, 428 S.,
70,00 €, ISBN 978-3-525-36427-7

 

Neueste Beiträge