Als vor zwei Jahren die Erinnerung an die kommunistische Herrschaft im öffentlichen Raum Polens auf Geheiß der Regierung getilgt werden sollte, verschwand in Stettin/Szczecin nicht nur das »Denkmal der Dankbarkeit« aus dem Stadtbild, sondern um ein Haar auch die »Straße des 26. April«, die beide an die Befreiung Stettins durch die Rote Armee im Frühjahr 1945 erinnerten. Damit geriet aber die kollektive Erinnerung an die Anfänge des polnischen Stettin in eine Krise. Denn wenn die Einnahme der Stadt nicht erinnerungswürdig sein soll, auf welche Weise kann man dann erzählen, wie Stettin zu einer polnischen Stadt geworden ist?
Was also geschah in dem halben Jahr zwischen Frühjahr und Herbst 1945? Anders als in Breslau zogen sich die deutschen Verbände am 25. April weitgehend kampflos aus dem zur Festung erklärten Stettin zurück, allerdings nicht, ohne vorher die Brücken über die Oder zu spren-gen. Da die Rote Armee schon eine Woche zuvor südlich von Stettin die Oder überschritten hatte, lag die Stadt bereits im Windschatten des Vormarschs auf Berlin. Als am 26. April Einheiten der Zweiten Belorussischen Armee auf das westliche Oderufer in die weitgehend verlassene und zerstörte Stadt einrückten, hatten nur noch wenige tausend Personen in ihr ausgeharrt. Nachdem eine Militärverwaltung unter dem Stadtkommandanten Aleksandr Fedotow eingesetzt worden war, rückte der Großteil der sowjetischen Truppen rasch nach Westen vor.
Das Leben in den Ruinen von Stettin nach dem Krieg. © Archiv Krystyna Łyczywek
Russisches, deutsches, polnisches und jüdisches Stettin
In den folgenden Wochen und Monaten trafen in Stettin gegensätzliche Sichtweisen und Interessen aufeinander. Die sowjetische Stadtkommandantur war zunächst an der Sicherung der Stadt und in längerer Perspektive vor allem an der Nutzung des Hafens als Umschlagplatz für die Reparationen und Kriegstrophäen aus Deutschland interessiert. Insofern war es durchaus naheliegend, wenn Stettin am 11. Juni dem Kommando General Schukows in Berlin unterstellt und damit faktisch der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) zugerechnet wurde. Viele der bisherigen deutschen Einwohner, die Richtung Westen evakuiert worden oder geflohen waren, versuchten nach Kriegsende nach Stettin zurückzukehren. Häufig wurden sie auch aus ihren Zufluchtsorten wieder zurückgeschickt. Allerdings waren ihre Wohnungen vielfach zerstört, geplündert oder schon durch russische Soldaten, polnische Zuwanderer oder deutsche Rückkehrer belegt. Auch war es wegen der allgegenwärtigen Brandstiftungen und Überfälle sicherer, nicht alleine, sondern in der Nähe anderer zu wohnen. Hinzu kamen Tausende, die eigentlich in ihre Wohnorte östlich der Oder zurückkehren wollten, aber den Fluss nicht überqueren konnten und so in Stettin strandeten. So scharten sich die deutschen Rückkehrer in dem weitgehend unzerstörten Zabelsdorf/Niebuszewo.
Für den Aufbau einer Zivilverwaltung griff der Stadtkommandant – ähnlich wie andernorts in der SBZ – zunächst auf sogenannte antifaschistische Kräfte zurück. Während der »Woche der Westgebiete« in Stettin vom 14. bis 20. April 1947 marschieren Jugendgruppen mit einem Transparent »Die gesamte Jugend Polens an der Wacht der Westgrenzen«. © PAP»Bürgermeister« oder »Oberbürgermeister« waren angesichts der beschränkten Handlungsspielräume jedoch wenig zutreffende Bezeichnungen. Nach der Einnahme der Stadt hatte sich zunächst der Kommunist Ernst Rusch bei der Roten Armee gemeldet und begonnen, eine Zivilverwaltung aufzubauen. Er wurde allerdings schon nach wenigen Tagen durch den parteilosen Erich Spiegel ersetzt, der sich dem Nationalkomitee Freies Deutschland angeschlossen hatte und mit der Roten Armee in die Stadt gekommen war. Spiegel sollte eine Schutzzone für die deutsche Bevölkerung einrichten, wurde jedoch um den 23. Mai durch den KPD-Funktionär Erich Wiesner abgelöst, der sich von 1927 bis 1930 in Moskau aufgehalten hatte. Die Vorstellung Wiesners und seiner Mitstreiter war es, eine deutsche kommunistische Stadtverwaltung aufzubauen. Sie gingen davon aus, dass Stettin ein Teil der SBZ bleiben werde und verlangten wiederholt von der Militärverwal-tung, die »Polenfrage« zu klären.
Die dritte Gruppe von Akteuren im Stettiner Drama waren diejenigen, die Stettin in eine pol-nische Stadt umgestalten wollten. Repräsentanten der zukünftigen polnischen Verwaltung waren der zum Woiwoden von Pommern ernannte Leonid Borkowicz und Piotr Zaremba, ein junger Bauingenieur als vorläufiger Stadtpräsident Stettins. Zaremba, der den Krieg in Posen überstanden hatte, war seine neue Aufgabe offensichtlich kurzfristig übertragen worden. Als er am 27. April – einen Tag nach der Einnahme durch die Rote Armee – den Befehl erhielt, die Stadt zu inspizieren, musste er sich zunächst aus einem Brockhaus-Lexikon einen Stadtplan heraustrennen. Bei der Besichtigung entschied sich Zaremba für die unzerstörte Hakenterrasse als Sitz der zukünftigen polnischen Woiwodschaft. Ohne jeden Zweifel waren Borkowicz, Zaremba und die »polnischen Pioniere«, die sich dem Aufbau eines polnischen Stettin verschrieben hatten, davon überzeugt, dass die Stadt Polen zugeschlagen werde. Da in Stettin vor 1939 nur sehr wenige Polen gelebt hatten, musste es das vorrangige Ziel der polnischen Verwaltung sein, möglichst schnell polnische Siedler in die Stadt zu bringen.
Schließlich gab es noch eine weitere, eine jüdische Sicht auf die Stadt nach Kriegsende: Für viele derjenigen, die den Holocaust zwar überlebt hatten, aber keine Perspektiven mehr für ein Leben in Polen oder der Sowjetunion sahen, war Stettin durch die neue Grenzlage wie durch seinen Hafen als Zwischenstation für die Emigration nach Palästina oder Übersee attraktiv. Nachdem die Aussiedlung der Deutschen aus Stettin begonnen hatte, kamen 1946 knapp 30 000 jüdische Zuwanderer in die Stadt, von denen aber die allermeisten Stettin bis 1951 wieder verließen.
Deutsches oder polnisches Stettin?
Die Vorgänge im Frühjahr und Sommer 1945 und ihre Hintergründe sind Gegenstand zahlreicher Spekulationen und Legenden, die sich nicht zuletzt daraus speisen, dass die sowjetischen Quellen nicht zugänglich sind. Am 27. April ordnete Borkowicz die Übernahme der Zivilverwaltung in Stettin durch Polen an und schickte Zaremba von Schneidemühl/Piła nach Stettin. Zarembas Erklärung gegenüber Fedotow, dass er nun die Zivilverwaltung leiten werde, beein-druckte diesen zunächst wenig. Eher sah der Stadtkommandant in dem Posener Woiwoden Feliks Widy-Wirski einen Ansprechpartner, von dem er an demselben Tag Hilfe bei der Brandbekämpfung anforderte. Gleichzeitig ließ Fedotow eine deutsche Verwaltung zu. Die deutsche und die polnische Stadtverwaltung ignorierten einander in der Folgezeit wechselseitig und woll-ten der jeweils anderen Seite nur eine Kompetenz für die eigenen Landsleute zusprechen, wäh-rend man selbst die Gesamtverantwortung für die Stadt für sich in Anspruch nahm. Nachdem Zaremba Stettin zum Sitz der Woiwodschaft Pommern erklärt hatte, traf Borkowicz in der Funk-tion des Woiwoden am 10. Mai in Stettin ein. Kurz darauf verfasste er einen kritischen, aber gewiss zutreffenden Bericht an den Vorsitzenden des Nationalrats Bolesław Bierut über die Situation in der Stadt: Es würden systematisch Brände gelegt, Polinnen vergewaltigt, die sowjetischen Behörden machten keinen Unterschied zwischen Deutschen und Polen und ließen die Ansiedlung von Polen nicht zu.
Als Fedotow feststellte, dass es keine offizielle Erklärung der polnischen Regierung zur Über-nahme Stettins gab, entschied offensichtlich Stalin persönlich, eigenmächtige Aktivitäten der polnischen Verwaltung in Stettin zu unterbinden. Daraufhin erhielten Borkowicz und Zaremba sowie ihre Mitstreiter am 17. Mai den Befehl, sich aus der Stadt zurückzuziehen. Von da ab gab es in Stettin nur noch eine deutsche zivile Verwaltung, in der wenige Tage später Erich Wiesner die Leitung übernahm. Die Dokumente der deutschen Stadtverwaltung zeugen von der Unmöglichkeit, das Chaos in der Stadt zu bändigen. Wiesner und seine Leute dachten eindeutig in den Kategorien der SBZ. Ihr Versuch, sich mit einer Petition Mitte Juni direkt an Schukow zu wenden, um ihm die katastrophale Situation der Stadt zu schildern, blieb allerdings folgenlos.
Die Beseitigung von Schutt rund um den Königsplatz/ Plac Żołnierza Polskiego hat die junge Fotografin Krystyna Łyczywek nach dem Krieg dokumentiert. © Archiv Krystyna ŁyczywekIn dieser Zeit, am 9. Juni, fiel dann erneut in Moskau die Entscheidung, dass die polnische Verwaltung zurückkehren könne. Jedoch wurde sie nur zehn Tage später, am 19. Juni, wieder abgezogen. Der Hintergrund war offensichtlich derselbe wie im Mai: Es sollte der Eindruck vermieden werden, dass die polnische Regierung Stettin bereits übernommen habe. Diesmal ging es allerdings weniger um die Handlungen vor Ort als vielmehr um die Verhandlungen mit den Westalliierten über die Bildung einer polnischen Regierung der nationalen Einheit. Zu diesem Zeitpunkt war den polnischen und sowjetischen Stettiner Akteuren bereits klar, dass eine end-gültige Entscheidung zugunsten Polens in Moskau bald fallen würde. In den letzten Junitagen war es soweit. Zunächst wurde Wiesner eröffnet, dass die deutsche Verwaltung, die gerade beginnen sollte, die Lebensmittelversorgung für die mittlerweile 80 000 Deutschen zu organisieren, ihre Aktivitäten einstellen müsse. Am 3. Juli teilte Schukow Borkowicz und Zaremba in seinem Amtssitz in Berlin die Entscheidung Stalins mit, dass Stettin unter polnische Verwaltung komme.
Die Übergabe Stettins fand dann am 5. Juli mit klar verteilten Rollen statt. Die deutsche Stadtverwaltung kam nicht mehr zu Wort und ihre Mitglieder sollten die Stadt verlassen. Einige von ihnen wurden vorübergehend in die polnische Verwaltung integriert. Während sich Zaremba als Sieger im Kampf um das polnische Stettin stilisierte, lässt Wiesners Abschlussbericht unverhohlene Abneigung gegenüber Polen erkennen: »Hundertmal lieber eine Besetzung durch die Rote Armee als Polenherrschaft«, sei die Stimmung in der Stadt gewesen. In der Stadt änderte sich zunächst jedoch wenig: Es herrschte weiter Hunger. Plünderungen, Vergewaltigungen und Morde prägten den Alltag und betrafen Deutsche wie Polen. Wechselseitige Schuldzuweisungen an Sabotageakte des »Werwolfs«, marodierende russische Soldaten oder polnische Banditen sind kaum geeignet, ein klares Bild zu zeichnen.
Der Stettiner »Zipfel«
Ein zentrales Problem Stettins blieb jedoch der Verlauf der deutsch-polnischen Grenze: Zunächst umfasste das polnisch kontrollierte Gebiet nur das engere Stadtgebiet, nicht aber die Vororte. Dies erschwerte die Versorgung mit Lebensmitteln, zumal eine Verbindung nach Polen nur durch Behelfsbrücken über die Oder möglich war. Die Orte im westlichen Umland Stettins blieben dagegen unter deutscher Verwaltung. Zu einer Lösung kam es erst im September 1945, nachdem die Potsdamer Konferenz nur den Status quo des Grenzverlaufs bestätigt, nicht aber die Abtretung weiterer Gebiete an Polen beschlossen hatte. Allerdings hatte Stalin bereits im Januar 1944 in Verhandlungen mit den polnischen Kommunisten einen Grenzverlauf westlich der Oder von Swinemünde/Świnoujście bis Greifenhagen/Gryfino markiert. Mitte September brachte Schukow eine Karte mit der Eintragung Stalins aus Moskau mit, danach wurden dann in Greifswald Details des Grenzverlaufs festgelegt. Unterzeichnet wurde das Abkommen durch Zaremba und einen Vertreter der Sowjetischen Militäradministration am 21. September in Schwerin. Auch nach der Übergabe des »Stettiner Zipfels« Anfang Oktober blieben aber Pölitz/Police mit seinen chemischen Werken und ebenso große Teile des Stettiner Hafens unter sowjetischer Kontrolle.
Insbesondere an dem Grenzverlauf westlich der unteren Oder hat sich die Debatte über die Rechtmäßigkeit der Grenze an Oder und Neiße entzündet. Außer Frage steht jedoch, dass diese Demarkation sowohl den polnischen Vorstellungen als auch der Zusicherung Stalins entsprach. Dennoch blieb die Situation Stettins prekär. Trotz oder vielleicht auch wegen der propagandis-tischen Bekräftigungen, »an der Oder Wacht zu halten«, prägte die neuen Bewohner Stettins lange Jahre eine Mentalität der Vorläufigkeit und ein Gefühl der Unsicherheit, das nicht nur der Angst vor einem deutschen Revanchismus entsprang, sondern auch der Befürchtung, dass eine neue Entscheidung aus Moskau die Verhältnisse in Stettin mit einem Federstrich wieder ändern könne.