Heute gilt der Brite Thomas Cook im öffentlichen Gedächtnis als Vorreiter des organisierten Tourismus. Doch gerade auch sein jüngerer deutscher Kollege Carl Stangen trieb die Vorstellung vom Reisen voran. Sein Name wurde Ende des 19. Jahrhunderts zum Markenzeichen und der Unternehmer selbst zu einer Tourismus-Ikone des wilhelminischen Zeitalters.
Zu seinen Lebzeiten war Carl Stangen ein Weltbürger par excellence, heute ist er nahezu vollständig in Vergessenheit geraten. Dabei ist der Name des 1833 im schlesischen Ziegenhals/Głuchołazy geborenen Reisepioniers eng mit dem Aufstieg von Unternehmen wie der Hamburg-Amerika-Linie (später Hapag-Lloyd) und damit auch TUI verbunden. Denn seine Biografie und sein Lebenswerk stehen nicht nur für die Anfänge des Pauschalreisens, sondern erzählen auch ein Stück Kulturgeschichte.
Der junge Carl verlor schon früh seine Mutter und wurde von seinem Vater im Alter von zehn Jahren in die Militärerziehungsanstalt Annaburg bei Wittenberg geschickt. Er kehrte jedoch als militärisch un-tauglich eingestuft ohne Abschluss nach Schlesien zurück. Die einsame Fahrt aus Schlesien nach Annab-urg war die erste »große« Reise des Weltenbummlers, an die er sich später als »Senior« in seinen Reiseskizzen erinnert.
Finanzielle Sorgen nach der Rückkehr ließen den jungen Mann zunächst ein praktisches Handwerk er-lernen. Er wollte Buchbinder werden, doch es bot sich eine Gelegenheit zu einer Ausbildung bei der preußischen Post in Breslau/Wrocław. Der junge Beamte stieg schnell zum Leiter einer Postfiliale im Waldenburger Bergland/Góry Wałbrzyskie auf. In Tannhausen/Jedlinka bei Charlottenbrunn/Jedlina-Zdrój, wo er als Postbeamter und Hobbyschriftsteller wirkte, gab es in den 1860er Jahren bereits recht viele Kurgäste und Sommerfrischler. Hier kam Stangen zum ersten Mal mit dem Fremdenverkehr in Berührung.
Vom Postbeamten zum Reiseschriftsteller
Die Umgebung Waldenburgs erwies sich als idealer Ort für die Entwicklung seiner schriftstellerischen Interessen. Bereits dort entstand 1866 Stangens erster Reiseführer Fremdenführer im Waldenburger Gebirge mit besonderer Berücksichtigung der Badeorte Salzbrunn, Altwasser und Charlottenbrunn. Später folgten weitere Reisehandbücher über Berlin und Umgebung, Syrien, Ägypten und Palästina.
Eine besondere Zusammenarbeit verband Carl Stangen mit seinem älteren Bruder Louis, einem aktiven Unternehmer der Verkehrs- und Kulturbranche mit Sitz in Breslau. Louis Stangen veranstaltete um 1863/1865 die ersten Sonderfahrten mit der Bahn von Breslau nach Wien, Krakau und Budapest, an denen oft über fünfhundert Reisende teilnahmen. Er war auch der Leiter der ersten deutschen Gesellschaftsreise nach Ägypten und wirkte wie sein Bruder als Schriftsteller und Herausgeber. So veröffentlichte er 1863 in Breslau u. a. die Wochenblätter Schlesische Theater-Zeitung.
Als er Ende der 1860er Jahre seinen jüngeren Bruder überzeugte, sich mit einem Reisebüro in Berlin selbständig zu machen, ging Carl das Risiko ein und verzichtete auf die sichere Beamtenstelle. Es sollte der Beginn eines großen Abenteuers für ihn wie für Tausende seiner späteren Kunden werden. »Vom Jahre 1867 erfüllten sich demnach meine Wünsche, die dahin gegangen waren, die Welt aus eigener Anschauung kennen zu lernen im reichsten Maße. Ich reiste selbst sehr viel und sah in jedem Jahre neue Länder und Meere«, schrieb er später in seinen Reiseerinnerungen Aus allen Welten.
Im Alter von 35 Jahren zog Stangen in die preußische Hauptstadt, wo er sich 1868 mit einem der ersten Reisebüros in Deutschland einen Namen machte. Das neue Berliner Unternehmen beeinflusste bald die Tourismus-Szene, indem es nach dem britischen Muster die ersten deutschen Gesellschaftsreisen ins Ausland veranstaltete. Das warb zu jeder Saison mit neuen, entfernten Reisezielen von Syrien über Ceylon , Japan und Nordamerika bis hin zu dem luxuriösen Angebot einer Weltreise für wohlhabende Eliten. Die erste touristische deutsche Weltreise erfolgte im Jahr 1878 und sorgte für internationale Schlagzeilen.
Sorgfalt und Zuverlässigkeit sowie Mut zum Risiko, Kreativität und Kontaktfreudigkeit erlaubten es dem Schlesier in eine neue Dimension vorzustoßen: Er gründete einen vertrauenswürdigen Fami-lienbetrieb, der zugleich weltweit agierte. Die aufwendig vorbereiteten Gesellschaftsreisen, die von Carl Stangen’s Reise-Bureau angeboten wurden, stellten ein neues und rasch begehrtes Angebot dar: die Pauschalreisen inklusive freier Fahrt für Eisenbahn, Dampfer, Wagen – in der komfortabelsten Weise, Hotels mit hervorragender Verpflegung, kostenlosen Besuchen von Sehenswürdigkeiten und Be-treuung durch ausgewiesene Fremdenführer. Auch der Trinkgeldzwang und die lästigen Pass- und Zollschwierigkeiten oder Dolmetscher fielen damit weg.
Luxusreisen und Pauschalangebote aus dem Katalog
Ein absoluter Pionier in Deutschland war Stangen in Bezug auf die Aufnahme von ersten Orient-Reisen in sein Angebot. 1873 fand die große Orientreise nach Palästina und Syrien statt. Seit 1875 organisierte das Reisebüro die ersten Exkursionen nach Norwegen, 1876 nach Spanien, und gleichzeitig wurden die bisherigen Orientreisen um Dampfer-Nilfahrten erweitert.
Im Programm des Büros befanden sich allerdings nicht nur kostspielige Gesellschaftsreisen, sondern auch preisgünstige Sonderfahrten mit Extrazügen zu Welt- und Gewerbeausstellungen und Musikveran-staltungen etwa in Wien und Paris. Diese Fahrten waren zugleich die ersten touristischen Bahnreisen, und die dafür benötigten Züge wurden von Stangen speziell bestellt. Die Eisenbahn, später als Preußi-sche Bahn verstaatlicht, übernahm die Idee, Züge für Sonderfahrten bereitzustellen. Ein Verdienst Stangens war die Erleichterung des Reisens durch den Verkauf von praktischen Pauschalfahrkarten für die Eisenbahn und den Dampfschiffverkehr. 1869 wurde der Privatverkauf von Eisenbahntickets einge-führt.
Das Berliner Reiseinstitut zog zur Jahrhundertwende in das eigens erbaute repräsentative »Arabische Haus« in der Friedrichstraße 72. Das Gebäude ließ Carl Stangen für seine Agentur nach dem Entwurf des Berliner Architekten Gustav Gause entwerfen. Es besaß eine reichlich verzierte, orientalisch stilisier-te Fassade und war die erste Adresse für Reiseinteressierte. Heute allerdings existiert nur noch die Lich-terfelder Stadtvilla, die Stangen hinterlassen hat.
Der Erfolg von Carl Stangen’s Reise-Bureau’s war der Lohn für den Einsatz in fast vierzig Arbeitsjahren, in denen er sich bemühte, seinen Kunden ein authentisches Bild fremder Länder zu präsentieren und den Austausch mit der einheimischen Bevölkerung zu ermöglichen. Zum 25-jährigen Bestehen des Reisebüros 1892 wurde während einer Feier im Berliner Kaiserhof von verschiedenen Rednern betont, dass Carl Stangen dem deutschen Namen im Orient zu Ansehen verholfen und nicht nur wie ein Reiseführer, son-dern wie ein Lehrer die Deutschen in die Wunder des Orients eingeführt habe.
Organisator von Großveranstaltungen
Der Aufstieg seiner Reiseagentur hing aber auch mit dem Erfolg der ersten Mittelmeer-Kreuzfahrten zusammen sowie mit der steigenden Bedeutung bürgerlicher Ideale wie Bildung und Weltoffenheit.
Die beiden Söhne Ernst und Louis traten in die Fußstapfen des Vaters und stiegen im jungen Alter in das Geschäft ein. Dieses konnte so auch großformatige Veranstaltungen organisieren: Im Jahr 1893 wurde es von der Direktion der Weltausstellung in Chicago zum offiziellen Touristenbüro ernannt, und durfte damit exklusiv im Deutschen Reich Reisen zur Weltausstellung anbieten. Weitere Initiativen des Reiseunternehmens waren die Betreuung der Veranstaltungen zur Einweihung des Kaiser-Wilhelm-Kanals in Kiel, des VII. Internationalen Geographen-Kongresses in Berlin oder des XII. Internationalen Medizinischen Kongresses in Moskau im Jahr 1897. Für ihre Tätigkeit wurde die Familie Stangen von Kaiser Wilhelm II. ausgezeichnet. Stangens Agentur wurde noch im Jahre 1905 an die »Hamburg-Amerika-Linie« (Hapag) verkauft. Seit dem Jahr 2004 gehören die 170 Hapag-Lloyd-Reisebüros zum touristischen Eigenvertrieb der TUI.
Gemeinsam mit seinem früh verstorbenen Bruder Louis zeichnete Carl Stangen die ersten Karten des modernen internationalen Tourismus in Deutschland. Er publizierte nicht nur Reiseberichte und Reiseführer, sondern auch Novellen und patriotische Gedichte.
Heute gibt es kaum noch Orte, die an Carl Stangen erinnern. Seine Ruhestätte befindet sich im Parkfriedhof Berlin-Lichterfelde. Das Grab existiert allerdings nicht mehr. Dafür befindet sich auf dem Gelände der ehemaligen Militärerziehungsanstalt in Annaburg eine Gedenkstätte. Nach Stangens Tod wurde eine Gedenkeiche gepflanzt, und noch im Jahr 2008 fand dort eine Feier anlässlich seines 175. Geburtstags statt.
In seiner schlesischen Heimat hingegen geriet der Reisepionier erst neulich wieder in den Fokus der Öffentlichkeit. Die jüngste deutschsprachige Stangen-Monografie, die aus der Feder der Autorin dieses Textes stammt, wurde 2018 durch den Marschall der Woiwodschaft Oppeln/Województwo Opolskie mit dem wichtigsten regionalen Preis im Bereich der Wissenschaften ausgezeichnet.
von Aline Dittmann