Wilhelm Droste kann viele kluge Dinge über die Budapester Kaffeehäuser erzählen. Über ihre Geschichte. Vor allem aber über ihren Zweck: Zeitverschwendung ist das Wichtigste. »Dahin müssen die Gäste wieder erzogen werden: Einfach sitzen und ihre Zeit vergeuden, denn diese ist doch eigentlich die wertvollste Zeit.« Ein Essay über die Kaffeehäuser von Budapest.
Der Ort, an dem Drostes Worte Wirklichkeit werden sollen, liegt direkt an der Elisabethbrücke in der Nähe zur Donau. Hier eröffnete er 2018 das Kaffeehaus Három Holló. Der Name, auf Deutsch »Drei Raben«, ist eine Reminiszenz an den Dichter, der es Droste wie kein anderer angetan hat: Endre Ady (1877–1919). Zeitgenössische Zeitungsausschnitte, Porträts des Dichters, selbst seine Totenmaske schmücken Teile der meterhohen und sonst eher kargen Wände. Der 1953 geborene Sauerländer Droste bereiste Ungarn bereits in den 1970er Jahren. Mittlerweile lebt der Germanistikdozent, Autor und Übersetzer seit über drei Jahrzehnten im Land. Bereits Ende der 1990er Jahre wandelte er auf Endre Adys Spuren. Das Három Holló gab es nämlich schon einmal. Im ursprünglichen Lokal, das mehr Kneipe war als Kaffeehaus, verbrachte der Dichter seine Tage und Nächte. An seinem Standort auf dem Prachtboulevard Andrássy út, direkt neben der Oper gelegen, bezog in den 1990er Jahren das Goethe-Institut seine Räume. Und Wilhelm Droste konnte hier seinen Traum vom Kaffeehaus verwirklichen.
Kaffeehaus im dritten Versuch
Das aufgrund der Anbindung zum Goethe-Institut »Eckermann« benannte Café entwickelte sich so, wie es sich für ein Kaffeehaus gehört: als Ort des intellektuellen und literarischen Austauschs. Zeitgenössische Literaturgrößen wie Péter Esterházy oder György Konrád kehrten hier ein und hielten Lesungen. Nicht zuletzt war durch die exponierte Lage auf Budapests Prachtstraße für Laufkundschaft jederzeit gesorgt. »Man saß dort gerne und genoss die Schönheit der Welt«, erinnert sich Wilhelm Droste. Nur die Welt hatte ihren Preis. Aufgrund steigender Mieten musste das Goethe-Institut 2006 den Platz räumen und zog an einen neuen Standort nahe der Ringstraße im eher proletarisch geprägten Stadtteil Franz-stadt/Ferencváros. Das Café Eckermann zog mit. Einige Jahre ging das noch gut. Dann musste sich Wilhelm Droste den wirtschaftlichen Zwängen beugen. Nun also der dritte Versuch. Völlig unabhängig. Unter dem Wunschnamen. Die Räumlichkeiten von Wilhelm Drostes Három Holló gehören zu einem alten Gebäude des Piaristenordens. Aus einer Baustelle schuf Droste zusammen mit einem Dutzend Mitstreitern ein Kaffeehaus, in dem die Welt an einem Ort zusammenkommen soll. Zu den Gästen gehören Studenten ebenso wie ausgeflippte Spätpunker. Aus dem Untergeschoss dringt an diesem Februarabend traditionelle ungarische Tanzmusik. Oben füllen sich nach und nach die Tische. Wilhelm Droste sitzt an einem der meterhohen Fenster, den Cappuccino vor sich, mit Wasserglas auf einem Tablett serviert. So, wie es sein soll. Wie es früher war. Im alten Budapest.
Blütephase zur Jahrhundertwende
Den Kaffee und die ersten Ansätze einer Kaffeehauskultur hatten die Türken ins Land gebracht. Die Ungarn aber waren keine Kaffeetrinker. Die Ungarn tranken Wein. Erst nach dem Ende der türkischen Besatzung im späten 17. Jahrhundert kamen sie auf den Geschmack. Von ihren Reisen nach West- und Südeuropa brachten die begüterten Söhne des Landes sowohl die Kaffeehauskultur als auch die Technik mit in die Heimat. Zu den ersten namentlich bekannten Kaffeehausbesitzern im zu Zeiten Maria Theresias weit-gehend deutsch geprägten Pest gehörte der Deutsche Franz Reschfellner. Dieser, so berichten die Quellen, habe sich über die niedrigen Preise eines italienischen Konkurrenten beschwert, der ihm das Geschäft verderbe. Ihren Höhepunkt erreicht die Budapester Kaffeehauskultur an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Budapest ist zu dieser Zeit um 1900 zusammen mit Berlin die Stadt mit der rasantesten Ausdehnung und urbanen Transformation, ein abenteuerlicher Ort spektakulärer Umwälzung. Noch heute gilt in der historischen Rückschau die Zeit um 1900 als die imposante Blütephase der Stadt. In dieser Zeit entstehen die Wahrzeichen des heutigen Budapest: der Andrássy-Boulevard, die Oper und das Parlament, die großen Bahnhöfe, die Fischerbastei, die Luxushotels, die erste Un-tergrundbahn auf dem europäischen Festland – und die Kaffeehäuser. In ihrer Hochphase soll es 600 in der Stadt gegeben haben. Bei 800 000 Einwohnern.
Das Pilvax-Kaffeehaus in Pest, in dem junge Literaten die Revolution von 1848 vorbereitet haben, auf einer Federzeichnung aus dem 19. Jahrhundert von József Preiszler.© Wikicommons
Treffpunkt der Literaten
Dabei war das wichtigste Element in diesen urbanen Institutionen nicht der Kaffee, sondern die Information. Die geschriebene in Form der Tageszeitungen, die verbale in Form von Austausch und Gespräch. Oder wie man es heute ausdrücken würde: Netzwerken. Jede gesellschaftliche Schicht und jede Berufsgruppe hatte ihre Stammcafés. Kam ein junger Bäcker aus der Provinz auf der Suche nach Arbeit in die große Stadt, musste er nur herumfragen, in welchem Kaffee-haus sich die Bäcker trafen – Vitamin B zu k. u. k. Zeiten.
Legendär wurden die Kaffeehäuser als Treffpunkt der literarischen Elite. »Nicht zum Kaffee-trinken gingen wir, sondern zum Leben«, schrieb Sándor Márai, einer der größten ungarischen Literaten des 20. Jahrhunderts. Viel Geld hatten die Schreiber in der Regel nicht. Im Gegenteil: Das Kaffeehaus bedeutete auch eine Zuflucht aus ihren beengten, oftmals sogar ärmlichen Wohnverhältnissen.
Aber als Stars des gesellschaftlichen Lebens brachten sie die Frauen in die Kaffeehäuser. Und wegen der Frauen kamen die Männer, die Geld hatten und es in den rund um die Uhr geöffneten Kaffeehäusern gerne ausgaben. Die Bandbreite reichte vom Luxusetablissement bis zur Ka-schemme. Manche verfügten über Separees, in die man sich zurückziehen und das Kennenler-nen auf eine andere Ebene verlagern konnte. »Zumindest eine Geburt in einem Kaffeehaus ist dokumentiert, aber wie viele Kinder hier gezeugt wurden, darüber kann man nur spekulieren«, schmunzelt die Historikerin und Kaffeehausexpertin Noémi Saly.
Auferstanden mit Investorengeldern
Zu den legendären Kaffeehäusern gehörte das Café New York. Einer der zahlreichen Anekdoten zufolge warf der Schriftsteller Ferenc Molnár, Autor des Klassikers Die Jungs von der Paulstraße, zur Eröffnung 1894 die Schlüssel des Cafés in die Donau, damit es Tag und Nacht geöffnet bleiben möge. Von seiner Historie zehrt es noch heute. Doch längst vorbei sind die Zeiten, in denen die Schriftsteller hier ihre »Schriftstellerplatte« mit Käse, Aufschnitt, Butter und Brötchen sowie Tinte und Papier vorgesetzt bekamen. Vorbei die Zeiten, in denen den Gästen täglich 400 Tageszeitungen von London bis Moskau zur Verfügung standen. Heute bewirbt sich das mit Investorenhilfe wiederauferstandene Café als das luxuriöseste Kaffeehaus der Welt. Entsprechend ist die Klientel. Einheimische kommen nicht hierher. Im Eingangsbereich tummeln sich stattdessen Touristengruppen in Erwartung eines freien Tisches, der ihnen von einer Platzanweiserin mit Headset zugewiesen wird. »Um zu funktionieren, muss ein Kaffeehaus eine Seele haben«, ist Noémi Saly überzeugt. Die könne man nicht künstlich erzeugen, sondern sie müsse aus sich selbst heraus entstehen, durch die Betreiber, durch die Gäste. Saly sieht hier durchaus eine Gemeinsamkeit der traditionellen Kaffeehäuser aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den Budapester Ruinenkneipen hundert Jahre später.
In den Abbruchhäusern des einst jüdischen Viertels Elisabethstadt/Erzsébetváros hatten sich zu Beginn der Nullerjahre Kneipen angesiedelt, die schnell Kultstatus erreichten und über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt wurden. Für Noémi Saly hatten diese Ruinenkneipen den kosmopolitischen Charme der untergegangenen Kaffeehäuser. Wer heute an einem Samstagabend durch das frühere jüdische Viertel spaziert, wird hingegen von ausländischen Touristenhorden nahezu überrannt.
Bastion der Demokratie
Ebenso wie bei den Ruinenkneipen gibt es aber auch unter den Kaffeehäusern Beispiele von bewahrter Ursprünglichkeit. Nach der Jahrtausendwende wurde das legendäre Café Central ebenfalls mit Hilfe eines Investors wieder zum Leben erweckt. Dieses vermittelt heute noch am ehesten den Charme eines Kaffeehauses aus dem Budapest der Jahrhundertwende, nachdem es in den Jahrzehnten nach dem Krieg als Kulturhaus, Studentenklub und zuletzt sogar als Spielhalle zweckentfremdet worden war. Das Interieur ist mit seinen Marmortischen und lederbezogenen Sitzbänken edel, aber nicht protzig. Die Preise sind stolz, aber nicht überzogen. Die Beleuchtung ist schummrig, Porträts und Schwarzweißfotografien ungarischer Literaten schmücken die Wände. Man kommt gerne hierher – und sei es auch nur für einen Kaffee und ein Selfie. »Das Café war eine einzigartige Institution, etwas wie eine Universität, aber auch mehr, da es viel fruchtbarer war«, erinnerte sich der Schriftsteller Emil Kolozsvári Grandpierre. Die wegwei-senden Zeitschriften A hét (»Die Woche«) und Nyugat (»Westen«) hatten hier im Central ihre zweite Redaktion. Der Schriftsteller Frigyes Karinthy nahm hier die ersten Anzeichen seines Hirntumors wahr, der später zum thematischen Gegenstand seines Buches Reise um meinen Schädel wurde. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen erlebte die Budapester Kaffeehauskultur noch einmal eine Blütephase. Für Noémi Saly waren sie eine »Bastion der Demokratie«, ein Ort, an dem frei gesprochen, diskutiert, geschrieben und nachgedacht werden konnte. Nur wenige Jahre später sollte die alte Welt und mit ihr die bürgerliche Kultur in den Abgrund stürzen. Es war nicht zuletzt das jüdische Bürgertum, dessen Vertreter Kaffeehäuser gründeten, übernahmen oder veränderten. Mit ihnen ging auch die Kaffeehauskultur verloren. Und mit der Demokratie, die die Kaffeehäuser verkörperten, konnten weder Faschisten noch Kommunisten etwas anfangen.
Von der Bildfläche verschwunden
So wie es zu k. u. k. Zeiten von Kaffeehäusern wimmelte, strömen heute die ausländischen Ketten auf den ungarischen Markt. An Dutzenden gut frequentierten Plätzen haben sich Starbucks, Costa Coffee & Co. niedergelassen. Schon 1921 betrauerte der Kolumnist Julius Ludassy den Untergang des Wiener Kaffeehauses als ein Zeichen des Sittenverfalls: »Kurz zuvor ging auch die österreichisch-ungarische Monarchie unter. Aber was war das gegen den Niedergang des Kaffeehauses!« Einzug hielt hingegen das kommerzialisierte Mittelmaß, »das vor lauter Geld zum Bettler geworden ist«. Oder es erfolgte gleich die Umwandlung »in ein Bankhaus«.
Das historische Abbázia (benannt nach dem mondänen Seebad mit dem italienischen Namen Abbazia, heute kroatisch Opatija) am Oktogon an der Ecke Andrássy út und Teréz körút ereilte noch nach der politischen Wende eben jenes Schicksal. Auch dieses Kaffeehaus diente als Stammsitz verschiedener Zeitungsredaktionen. Seit 1992 ist in den Räumen eine Bankfiliale untergebracht. Viele andere wurden zu den im Kommunismus aufkommenden Presszós (»Espresso-Bars«) umfunktioniert, in denen die schnelle Tasse Kaffee mehr zählte als das endlose Verweilen, oder sie verkümmerten gleich zu Geschäfts- oder Lagerflächen. Immerhin ist das ehemalige Japán Kávéház (»Japan-Kaffeehaus«) ein Ort der Kultur geblieben, keine fünfzig Meter vom früheren Abbázia entfernt. In den Räumen ist die Buchhandlung Írok Boltja mit ihrer reichen Auswahl an ungarischer und auch fremdsprachiger Literatur untergebracht. Auch Endre Ady würde sein Három Holló nicht mehr finden. Heute residiert dort ein Luxusgeschäft von Louis Vuitton. »Das Kaffeehaus gibt es nicht mehr«, stellt Wilhelm Droste klar. Doch das bedeute nicht, dass man nicht Aspekte seiner Philosophie bewahren und in die heutige Zeit übertragen könne.
Nicht zuletzt habe das Kaffeehaus auch eine politische Komponente. Schon viel früher, im Jahr des europäischen Völkerfrühlings 1848, nahm die Revolution in Ungarn ihren Ausgang in – natürlich – einem Kaffeehaus. Für Droste ist und kann der Geist eines Ortes, an dem die Men-schen zusammentreffen, ins Gespräch kommen und sich austauschen, gar nicht anders sein als liberal. Und damit das Gegenstück zu der »illiberalen Demokratie«, wie sie Ungarns rechtskon-servativer Ministerpräsident Viktor Orbán propagiert. Zumindest der liberale Geist der Budapester Kaffeehäuser lebt in Wilhelm Drostes Három Holló fort.
von Sebastian Garthoff