»Die zarte schlanke Gestalt mit dem durchgeistigten Gesicht war überall zu sehen, wo Künstlerinnen zu Wort kamen, und sie hatte viele Freunde. Immer allzu bescheiden, drängte sie sich nie in den Vordergrund: sie zeichnete, malte, war ganz Künstlerin.« Das schrieb die Journalistin Anna Auředníčková im Juli 1946 in der Wiener Arbeiter-Zeitung über Malva Schalek. Im Ghetto Theresienstadt hatten die beiden sich 1944 zum letzten Mal gesehen. Malva Schalek ist eine Protagonistin der Wanderausstellung Die Schaleks – eine mitteleuropäische Familie, die anhand von fünf Biografien die Geschichte Mitteleuropas im 20. Jahrhundert erzählt. Ausstellungsautor Ralf Pasch schreibt über seine Annäherung an die wichtige künstlerische Zeugin des Holocaust.
Ich lernte Malva Schalek im Collegium Bohemicum im nordböhmischen Aussig/Ústí nad Labem kennen. Dort war ich auf die Nachlässe ihres Bruders Robert und dessen Sohn Fritz gestoßen. Malvas Spuren darin sind dürftig: Notizen zum Verbleib einiger Werke, Fotos, auf denen sie »allzu bescheiden« lächelt, wie Auředníčková schrieb. So wie ich über Fritz und Robert mehr erfahren wollte, faszinierte mich Malva. Erinnerungskultur ist ein großes Wort, was es bedeuten könnte, erfahren wir vielleicht, wenn es durch konkrete Menschen wie Malva Schalek mit Leben gefüllt wird.
An einer Station meiner Spurensuche, in der Prager Wohnung von Eva Schalková – Tochter von Fritz –, sah ich zum ersten Mal Originale von Malvas Bildern. Mit Pastellkreide hatte sie Robert und Fritz festgehalten. Eva Schalková konnte über ihren Vater und ihren Großvater erzählen, über Malva wusste sie kaum etwas.
Eine Großnichte Malvas, die Historikerin Catherine Stodolsky, hätte viele Fragen beantworten können. Tragischerweise war sie 2009 an Krebs gestorben. Ich besuchte ihren Mann in der Münchener Wohnung. Ihr Arbeitszimmer schien erhalten geblieben zu sein, wie sie es hinterlassen hatte: An den Wänden zwei von Malva geschaffene Portraits, die Catherine Stodolskys Eltern Hans und Eva Ekstein zeigten. Der Tod hatte die Wissenschaftlerin mitten in den Vorbereitungen für eine Ausstellung mit Malvas Werken ereilt.
»Eine wichtige Figur«
Die Künstlerin sei in seiner Familie »eine wichtige Figur« gewesen, so Stodolskys Sohn Ivor. Seine Mutter habe sich – als Feministin – für Malva Schalek besonders interessiert, weil sie eine Kunstakademie für Frauen besucht hatte und in Wien eine der gefragtesten Porträtistinnen war. Er selbst, sagt Stodolsky, gehe den Weg der Vorfahren seiner Mutter weiter, zu denen auch die Widerstandskämpferin Lisa Fittko – Nichte Malva Schaleks, Tante von Catherine Stodolsky und ebenfalls Protagonistin der Schalek-Ausstellung – gehört. Ivor Stodolsky ist Kurator zeitgenössischer Kunst und auch politisch, »wie es in unserer Familie gang und gäbe ist«. Er ist Mitbegründer von Artist at Risk, einer Organisation, die verfolgten Kunstschaffenden aus aller Welt einen »sicheren Hafen« zum Arbeiten bietet.
»Beeindruckt und berührt« von einem 2016 zufällig entdeckten Pastellportrait eines in Gedanken versunkenen jungen Mädchens war Renate Wegner, die sich von da an auf die Spuren der Künstlerin begab. Renate Wegner plant eine Monografie über Malva Schalek und machte eine größere Anzahl zum Teil verschollener Ölbilder und Zeichnungen ausfindig. Abgesehen von den Zeichnungen aus Theresienstadt habe das künstlerische Werk Malva Schaleks jedoch zu wenig Beachtung in der Kunstgeschichte und in der öffentlichen Wahrnehmung gefunden.
Malva wird 1882 in Prag in eine jüdische Familie geboren, ihr Vater betreibt eine Buchhandlung, zunächst im Ghetto, später außerhalb. Eine Musikalienhandlung und eine Leihbibliothek gehören zu dem kleinen Unternehmen. Das 19. Jahrhundert ist nicht nur für die Prager Juden – zeitweise war die Gemeinde eine der größten in Europa – eine Epoche der Emanzipation. In ganz Europa werden sie seit der Aufklärung nach der langen Zeit der Verfolgung und Ausgrenzung immer öfter zu Akteuren in Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft. In Prag, wo Juden zwischen deutsch- und tschechischsprachiger Kultur leben, stellt sich mit der zunehmenden Säkularisierung die Frage, wo sie sich hinsichtlich ihrer Identität verorten. Malvas Bruder Robert schreibt, er sei »an der Grenze dreier Nationalitäten« geboren worden, der deutschen, der tschechischen und der jüdischen. Sein Verhältnis zu allen drei Kulturen habe sich öfter gewandelt. »Charakterlosigkeit« wollte er sich deswegen nicht vorwerfen lassen. Bei den Schaleks wird die deutsche wie die tschechische Sprache gesprochen. Roberts und Malvas Vater sympathisieren mit der tschechischen Nationalbewegung. Robert konvertiert zum katholischen Glauben.
»Mäffchen« geht nach dem Ende der Schule nach Wien, wo sie Privatunterricht im Malen bekommt. Onkel Joseph von Simon, Bankier und Kunstmäzen, sorgt dafür, dass sie die Damenakademie in München besuchen kann. Als sie nach Wien zurückkehrt, stellt ihr der Onkel ein Atelier im obersten Geschoss des Theaters an der Wien zur Verfügung, er war nach seinem Umzug von Prag nach Wien Mitbesitzer dieses Hauses geworden. Heute befindet sich vor dem Gebäude eine Gedenkplatte für Malva Schalek.
»Künstlerin ohne Kompromiss«
Malva wird mit Portraits aus dem Wiener Bürgertum bekannt. Ihre Werke sind bei diversen Ausstellungen zu sehen, zum Beispiel 1910 in der Wiener Sezession. »Künstlerin ohne Kompromiss und Konzession« nennt sie der Kritiker Max Milrath. In Wiener Tageszeitungen, die die Österreichische Nationalbibliothek aufbewahrt, finden sich Rezensionen über Ausstellungen. »Eine höchst eigenartige Sammelschau«, lobt ein anonymer Kritiker im Wiener Tagblatt vom 15. April 1937 eine Ausstellung in ihrem Atelier. »Die Künstlerin wollte die Köpfe von Wiener Frauen aus Beruf und Gesellschaft in ihrem geistigen Stimmungs- und Ausdrucksgehalt bildhaft gestalten, also keine auf das Äußerliche oder gar Süßlich-Schmeichelhafte abgestellte Portraitreihe schaffen, sondern sich mit der Geistigkeit der einzelnen Individualität, der von Erziehung, Beruf und Erfüllungsdrang bestimmten Frauenpsyche auseinandersetzen.« Diese Ausstellung ist eine der letzten von Malva.
<small> Quelle: Wikipedia </small>
Im März 1938 marschiert die deutsche Wehrmacht in Österreich ein. Für Malva als Jüdin wird die Situation lebensbedrohlich, sie verlässt die Stadt, findet Unterschlupf bei ihrem Bruder Robert in der tschechischen Kleinstadt Leitmeritz/Litoměřice. Er ist dort Richter am Kreisgericht. Hitler schließt mit den Alliierten das Münchener Abkommen, das die Abtretung der mehrheitlich deutschsprachigen Grenzgebiete der Tschechoslowakei an Deutschland besiegelt. Im Oktober 1938 besetzt die Wehrmacht die Sudetengebiete und damit auch Leitmeritz. Robert und Malva fliehen nach Prag. Die Besetzung Prags durch Hitlers Truppen 1939 bringt sie wieder in Gefahr. Während Robert untertauchen kann, erhält Malva 1942 einen Deportationsbefehl in das Ghetto Theresienstadt. In einem perfiden Propagandafilm gaukeln die Nationalsozialisten der Weltöffentlichkeit vor, wie menschenfreundlich sie die dorthin deportierten Juden behandeln. In Wahrheit sterben viele an Hunger und Krankheiten, die meisten werden in Lagern wie Auschwitz ermordet.
Kurz bevor Malva den Weg nach Theresienstadt antreten muss, schreibt sie mit dunkler Vorahnung Abschiedsbriefe. Unter anderem an ihre Schwester Jula, die sich mit ihrer Familie ins Ausland retten konnte: »In dem Moment, da ich Prag verlassen muss und nicht weiß, ob ich wieder zurückkehre, ist mein traurigster Gedanke, dass ich Dich, Euch alle vielleicht nie mehr sehen werde.« Diese berührenden Zeilen finden sich im Nachlass von Lisa Fittko im Deutschen Exilarchiv 1933–1945 in Frankfurt am Main.
Bei ihrer Ankunft im Ghetto ist Malva sechzig Jahre alt, ihre Gesundheit ist labil. Mit anderen Frauen wird sie in der sogenannten Hamburger Kaserne untergebracht. Trotz der Qualen nimmt sie das Malen wieder auf, hält ihre Beobachtungen aus dem bedrückenden Alltag fest. Es mag ihr Überlebenselixier gewesen sein. Viele weitere Künstlerinnen und Künstler aus Musik, Theater und Literatur finden in Theresienstadt ebenfalls die Kraft, ihr Schaffen fortzusetzen.
Anna Auředníčková erinnert sich in ihrem Zeitungsartikel von 1946, ein mit den Nationalsozialisten kollaborierender Bewohner des Ghettos habe sich von Malva porträtieren lassen wollen. »Ich zeichne den charakterlosen Lumpen nicht«, weigerte sich die Malerin. Im Mai 1944 wird sie nach Auschwitz deportiert. Sie sei »zwei Tage nach ihrer Ankunft in Birkenau gestorben; so ist ihr wenigstens die Gaskammer erspart geblieben«, heißt es in einem Brief, der ebenfalls im Exilarchiv aufbewahrt wird. Ignaz Ekstein, der Mann von Malvas Schwester Jula, bezieht sich darin auf Informationen von Robert. Der sorgte vermutlich dafür, dass die über hundert Bilder und Zeichnungen seiner Schwester aus Theresienstadt in das Archiv des »Ghetto Fighters’ House« im israelischen Kibbuz Lohamei Haghetaot und nach Yad Vashem gelangten. Sie sind Malvas Vermächtnis. Robert schrieb, »dass sie künstlerisch weit alles übertreffen, was sie je geschaffen hat«.