Zusammenfassung des Vortrags von Professor Alvydas Nikžentaitis, Historiker aus Litauen
Susanne Butz
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»Schlacht bei Grunwald« (Bitwa pod Grunwaldem). Historiengemälde von Jan Matejko, Ausschnitt, Öl auf Leinwand, 1872–878, Nationalmuseum Warschau Im Zentrum des Bildes steht der litauische Großfürst Vytautas (Witold).

Der Vortrag wurde im Juni 2010 im Rahmen des dreitägiges Seminars »Tannenberg – Grunwald – Žalgiris | 1410 – 2010. Schlachtfeld der Nationalmythen« im polnischen Allenstein/Olsztyn gehalten.

Während der Olsztyner Konferenz »Tannenberg – Grunwald– -Žalgiris | 1410–2010« gab Professor Alvydas Nikžentaitis, Historiker aus Litauen, einen Überblick über den »Žalgiris-Mythos«. Zur Mythenbildung gehört, dass ein und dasselbe Ereignis unterschiedlich verstanden und interpretiert wird. Ein Mythos wird häufig eingesetzt, um politische und nationale Ziele zu verfolgen. Wie kommt es, dass die Polen und Litauer ihre gemeinsame Geschichte so unterschiedlich interpretieren?

Anders als in Deutschland sind in Litauen die Erinnerungen an die Schlacht von Žalgiris (deutsch Tannenberg) nach wie vor lebendig. Der während dieser Schlacht errungene Sieg über das Heer des Deutschen Ordens und der damit einhergehende Ruhm ist tief im Bewusstsein der Litauer verankert. Dennoch hat dies nicht zum Aufbau von ähnlichen Feindbildern geführt wie im polnischen und deutschen Mythos. Doch auch wenn sich die meisten Litauer an die Schlacht als ein wichtiges geschichtliches Ereignis erinnern, kann man von einem Rückgang der Mythenbildung in Litauen ausgehen.

Überhaupt hat der litauische Mythos einen etwas anderen Charakter als der polnische Grunwald-Mythos und der deutsche Tannenberg-Mythos. Wenn es um Žalgiris geht, beschäftigen sich die Litauer stärker mit sich selbst als mit dem Gegner. Žalgiris ist zum Inbegriff der kollektiven Identität der Litauer geworden. Heute geben sich sogar Volleyballteams diesen Namen. Anders als in Polen und Deutschland wurde in Litauen auf eine monumentale Repräsentation der Schlacht in Form von Denkmälern verzichtet. Einzig dem großen Helden der Litauer, Großfürst Vytautas (Witold), sind Mahnmale gewidmet. So könnte man auch von einem Vytautas-Mythos sprechen.

Das Verhältnis von Litauern und Polen war einerseits von Rivalität geprägt, doch gab es auch viel Verbindendes. Der Großfürst Vytautas und der Großfürst und spätere polnische König Władysław Jagiełło entstammten derselben Dynastie. Am Ende des 14. Jahrhunderts bestand eine polnisch-litauische Union. Diese Union hielt Vytautas nicht davon ab, sich zwischenzeitlich mit dem Großmeister des deutschen Ordens zu verbünden. Zu Beginn des 15. Jahrhundert führte allerdings ein Konflikt um Grenzgebiete zur Wiederannäherung Polens und Litauens. Der Schulterschluss provozierte den Hochmeister zur Kriegserklärung. Die Kriegshandlungen endeten bekanntlich mit dem Sieg der litauisch-polnischen Union über den Deutschen Orden.

Laut Überlieferung begannen die Kampfhandlungen mit einem Reiterangriff der litauischen Einheit unter Vytautas. Da die Litauer dem Heer des Ordens materiell und zahlenmäßig unterlegen waren, zogen sie sich rasch zurück. Die Ordensritter glaubten schon an den Sieg. Doch nun setzte das polnische Heer den Kampf fort. Nach mehrstündiger Schlacht unterlag das Ordensheer endgültig.

Zwischen Polen und Litauern gab es später immer wieder Streit darüber, wer die entscheidende Rolle während der Schlacht gespielt hat. Der litauische Angriff und Rückzug wurden unterschiedlich interpretiert. Mal war von einer panischen Flucht der Litauer vom Schlachtfeld die Rede, mal von einem vorgetäuschten Manöver, das entscheidend zum Sieg beigetragen hat. Im 16. Jahrhunderts formierte sich allmählich eine litauische politische Nation. Nun wurde Wert darauf gelegt, dass man der polnischen Interpretation der Ereignisse eine litauische Interpretation entgegensetzte. In Phasen der kulturellen Annäherung verlor der Mythos wieder an Bedeutung. Die Litauer blieben vom sogenannten »Zweiten Tannenberg« im Jahr 1914 unberührt. Die Politisierung der Schlacht von Žalgiris beschränkte sich in Litauen auf die Zwischenkriegszeit. Anlässlich des 500. Todestags von Vytautas im Jahr 1930 wurde dieser als »erster Held der litauischen Nation« gefeiert. Seine Darstellung in Matejkos berühmtem Monumentalwerk als friedliebender Edelmann dürfte seine ideologische Überhöhung noch verstärkt haben.

In den sechziger Jahren gab es Versuche, den Nationalhelden Vytautas als ideologische Waffe gegen Westdeutschland einzusetzen und damit die Sowjetmacht zu legitimieren, doch blieb es beim Versuch. Die Sowjetmacht fürchtete, dass nationale Gefühle die antisozialistischen Stimmungen in der Bevölkerung wecken könnten. Nikžentaitis unterstrich, dass in Litauen die Erinnerung an Geschichte hauptsächlich als ein Mittel zur Stärkung des nationalen Bewusstseins diente. Mit seinem Vortrag und während der Podiumsdiskussion regte er die Diskussion über weitere spannende Fragen an: Wie wichtig ist Erinnerungskultur? Worin besteht ihre Bedeutung? Gibt es so etwas wie Nationen mit langem und Nationen mit kurzem Gedächtnis? Worin unterscheidet sich Erinnerungskultur von Mythos? Wann kann man von Feiern reden und wann von Mythenbildung? Ist Erinnerung eine individuelle oder eine gesellschaftliche Angelegenheit?

Die Podiumsdiskussion im Olsztyner Schloss am zweiten Abend der Konferenz war ein würdiger Ort, um in eine erste Diskussion dieser und anderer Fragen einzusteigen. Gemeinsames und Unterschiedliches ließ sich auch noch beim anschließenden Biergartenbesuch in der Innenstadt von Olsztyn entdecken.