Eine Einführung zur Lesung, Altes Rathaus Potsdam, 03.04.2003
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Michael Markel und Oskar Pastior

Allerdings einen recht eigenen Gebrauch. In einem Text des jüngsten Bandes o du roher iasmin (2002) heißt es etwa: deltaspiele en-/ten pilades ele-/petalen seidel-/dill [...] (RI 12), oder weiter: ideelle spaten/liedeln spaete/seile [...] (RI 13). »Mich dünkt, die Alte spricht im Fieber«, sagt Faust über einen ähnlich gefügten Text in der Hexenküche. Sprachlich betrachtet, stellen die zitierten Fragmente Sätze dar, die den Bedürfnissen des deutschen Valenz- und Satzmodells voll entsprechen. Was daran befremdet, ist die lexikalische Besetzung der Gliedstellen, die keiner verbindlichen Sprachnorm folgt. Damit ist, glaube ich, eine erste Handreichung zum Lesen gewonnen: Pastiors Strategien der Textfügung gründen sich auf Fehlbelegungen des Modells, können also zum ersten unter dem Grundsatz der Normabweichung gelesen werden.

In Pastiors jüngstem Band geht jedem Text eine kurze Auskunft über dessen jeweilige Machart voran. Diesem Hinweis nach handelt es sich bei den zitierten Stellen gar nicht um lexikalisch normabweichend besetzte Sätze, sondern Zeile für Zeile um Anagramme auf Baudelaires Gedichttitel Spleen et idéal. Der Text ist diesmal also gar nicht aus normabweichender Gliedstellenfüllung zu lesen, sondern, da er unter dem Gebot der Anagrammierung steht, zum zweiten unter dem Grundsatz dieser autorgesetzten Gestaltungsnorm.

Wenn schon Goethe, dann auch noch »Sagt es niemand, nur dem Weisen,/weil die Menge gleich verhöhnet«: Pastiors strenges Anagramm simuliert nicht nur Sätze, sondern auch die Form eines wunderbar abgestimmten, scheinbar schwerelos schwebenden dreiteiligen Dialoggedichts (diesel an plete; plete an diesel; pedell an seite), das sich durchaus auf dem Westöstlichen Diwan niederlassen könnte. Pastior lesend, wäre also auch nach dem Funkenspiel jener Energien zu fragen, die durch die Reibung von alter und neuer Norm freigesetzt werden. Die Verflechtung der Spielregeln setzt drittens relationales Lesen voraus.

Leser und Autor, hat Pastior einmal geschrieben, legten »den Weg, wenn auch nicht denselben, in ähnlich gleicher Richtung zurück«, es könne dem Leser nicht nur um »das zu findende Muster«, nicht nur um die »Auflösung« gehen, sondern um den ganzen »Parcours« (FG 101). Das setzt viertens ein Lesen voraus, das sich der Leiblichkeit der Sprache im Textprozess vergewissert, ein Lesen nach dem Grundsatz sprachmaterialer Gewichtung.

Kein einfaches, nicht immer ganz herkömmliches Lesen also. Es setzt einen Leser voraus, »der Augen und Ohren neugierig offen hält« (JA 105) und dem Autor bei seinen Manipulationen an Leib und Gliedern der Sprache tunlichst auf die Finger schaut. Die Philologen aber unter den Lesern, diese »sekundären Geister«, die ohne »Fächer, Unterbringungen und Überdachungen« (FV 12) nicht auskommen, greifen zur Rasterung der Vielfalt gestalterischer Vorgänge hilfesuchend nach den mathematischen Grundoperationen und unterscheiden additive (Draufbold), subtraktive (aarscharf vorbei), permutative (farsch geleimt) und substitutive (ein Lesen lang) Manipulationsmöglichkeiten, die sich auf allen Ebenen des Sprachsystems durchführen lassen. Was sich ergibt, ist ein wahrhaft weites Feld, das zur philologischen Parzellierung geradezu herausfordert.

1. Die Graphemik

Die Graphemik ist insofern ein Randproblem, als sich Oskar Pastior nicht gerade häufig auf ihre Angebote einlässt. Immerhin gibt es auch im jüngsten Band vereinzelte Belege visueller Texturen. So laufen etwa in hds in gleichabständigen reihen (RI 54) in einem ersten Textfeld vierzehn alphabetisch geordnete Buchstabenkolonnen »gleichabständig« auf die vierzehn Schriftzeichen von »harmonie du soir« zu und in einem zweiten Feld davon weg, so dass sich in der alphabetisch dreizehnten Mittelzeile beider Felder der gleiche »Text« als Symmetrieachse dieses Flächenmusters aus Schriftzeichen ergibt. Ebenfalls als Augenweide bieten sich die auf- und absteigend, links- und rechtsbündig hüpfenden Buchstabenreihen der jüngsten »Zopfmodule« (RI 50, 56, 57-63) dar, doch auch früher hat Pastior gelegentlich mit Lettern gepuzzelt (HG 78; FG 43-45), hat Flächenornamente gebildet (FG 57-60, 85-86; HG 52-53) oder ähnliches getan wie Morgensterns Architekt: den Zwischenraum der Wörter herausgenommen und Schriftzeichenüberlappungen vom Typ »löwenzahnfleischhungerlohn« (remise buff, RI 44) ermöglicht. Solches lässt sich herstellen, gelegentlich treiben Reisegruppen das als zeitverkürzendes Gesellschaftsspiel, doch wenn Pastior graphemische Delimitationsspiele anzettelt, können diese leicht »vom Sichersten ins Tausendste« führen. Etwa ins Labyrinth des Minotaurus, jenes fugenlos gefügten mythischen Wesens, halb Mensch, halb Stier. Setzt Pastior diesem dann noch ein winziges »do« voran, so reflektiert der Text dominotaurusbekistandaradei (HG 19) zugleich blinzelnd auf seine Machart.

Deviatorische Delimitationen waren allgemeine Textkondition in Pastiors Gedichtgedichten (1973), wo ein Rahmen von 46 typpographischen Stellen pro Zeile den Text durch arbiträre Schnitte gegen den Strich scheitelt, so dass eine »Vorrichtung« leicht zur orrichtung und das harmlose »oder« zu o der! oder zu Ode R mutieren kann.

2. Die Lautung

Das französisch geschriebene, deutsch zu lautende Anagramm baude laire (RI 7) aus Pastiors jüngstem Band kommt dem Einschachtler als Überleitung zur Phonologie natürlich gelegen. Die Lautung bietet ungleich mehr und vielfältigere Spielregeln, zumal wenn nicht nur Einzelphoneme, sondern auch Lautgruppen in die Betrachtung einbezogen werden. Es kann aber durchaus auch geschehen, dass Pastior bloß einen Konsonanten etwas stärker aufzischen lässt und einen Vokal ein wenig länger dehnt, und schon verwandelt sich ein voraussetzbarer »Veteranenclub« zum Wetscherahnenclub (SB; JA 101) – die Ahnen ahnen dann den russischen wetscher, den Abend.

Lautassoziative Häufungen (FG 19-20), alphabetische Reihenbildungen sogenannter Abecedarien, die einfach, doppelt oder dreifach (FG 46, 62), vorwärts oder rückwärts (FG 43), mit oder ohne zusätzliche Zahlenspiele (FG 54-56; RI 21-22) durch die Texte laufen und wechselnde Muster ergeben, klangliche Umkehrschübe oder komplexe phonetische Ablaufspiele bieten in zahlreichen Texten äußerst phantasievolle »Beschäftigungen im Reich der Ohren« (LT 119).

Zum wichtigsten »Ohrenfänger« (HG 133) wird jedoch die Vokalise, allein schon weil sie eine eigene Gattung darstellt und sich formal entwickelt hat. Es sind Texte, die sich in dem Band Vokalisen und Gimpelstifte (1992) »immer von neuem an der Vokalschnur der Ausgangszeile(n)« (GS 107) entlangarbeiten, in späteren Bänden als Oberflächenversionen (HG 137) oder Oberflächenübersetzungen (VP 108) den Vokalismus ganzer Vorlagentexte nachbilden (WR 12; RI 23), anagrammatisch (HG 108-111) umstellen, gleichabständig verschieben (RI 33, 34, 35, 36), palindromisch zu »gegenläufigen« Vokalisen (HG 74) verkehren und sich schließlich den festen Baugesetzen tradierter Gedichtformen wie der Villanella (Pissmandel, VP 47 und 108) oder des Pantums (qumram talkum, VP 95; pompon tamtam VP 96 und 112) unterwerfen. Einmal, so viel ich sehe, wird in Pastiors letztem Band das Verfahren der Vokalise auf eine Konsonantenspiegelung übertragen (RI 32), reizvoll auch zu hören, wie Baudelaires »Harmonie du soir«, zu Silben zerlegt, im tänzelnden Paradeschritt der Sestine daherstottert (RI 52-53).

Dass selbst lautspielerische Texte nicht »unterhalb des gedanklichen Limits« (KM 77) bleiben müssen und dass Pastior ein schlitzohriger Spieler ist, der immer noch einen Hintersinn als Trumpf in der Hand hält, beweist m. E. sinnfällig der Text die melodie des archimedes (HG 14-15). Die im Titel vorgegebene, im Text multiplikatorisch vorgeführte klangliche Identität von Auftakt und Ausklang der Sprachsequenzen verwirklicht sprachleiblich das Prinzip des Archimedes ebenso sinnfällig, wie im Umkehrschluss ästhetische Schönheit auf der Gleichgewichtsschwebe der Symmetrieglieder beruhen kann.

3. Die Grammatik

Es gibt einige wenige Texte, denen Grammatikalisches ganz direkt als Vorwurf dient. So nimmt beispielsweise der Text auf trotz isst fluss mit aus der Gimpelschneise in die Winterreise-TexteAuf dem Flusse (JA 193; WR 7) zum Vorwand, wird aber, bis auf den Titel, ganz aus Präpositionen montiert, deren Zusammenordnung Bedeutungsanklänge freisetzt. fornace fornaio (WR 3) aus dem gleichen Band spielt mit deutschen Modalverben, während wedel-entsch (JA 192) polyglott die Konjunktion oder, russisch ili, rumänisch sau, englisch as ins Spiel bringt und sie kunstvoll zu wechselnd rückläufig lesbaren Palindromen verschränkt. Stellt das russische ili schon an sich ein Lautpalindrom dar, bildet die Zusammensetzung aus sau und as ein Silbenpalindrom, wie oder durch Zusatz von edo ein gleiches ergibt. Stellungspermutierend in wechselnde Folge gebracht, ergeben schließlich die drei Palindromwörter sechs Zeilenpalindrome: mit einfachsten Mitteln ein einfallsreiches Textgebilde höchster Künstlichkeit.

Morpheme können als Präfixe oder Suffixe nach bestimmten Regeln zugesetzt oder subtrahiert werden (FG 73; HG 82-83), Wortarten können – wenn etwa Albert albert – ihre Klassenzugehörigkeit wechseln oder regelwidrig flektiert (FG 44; JA 134) werden, doch besonders gewichtig werden grammatikalische Arbeitstechniken durch die Art, wie die Syntax mit dem experimentell umgerührten Wortschatz fertig wird.

Für den außergewöhnlichen Rang der Texte Pastiors spricht mit Sicherheit die Mehrfachvernetzung des Materials. Solch plurale Bezüglichkeiten sind grundsätzlich Ergebnis des kunstvollen Textbildungsverfahrens; sind sie aber schon im Material angelegt, verfügt Pastior über einen seltenen Spürsinn, diese Angebote zu erkennen und zu nutzen. So beispielsweise jene des Genitivs. Das Hören des Genitivs (1997) lautet ein Bandtitel, und im Leitgedicht das denken des zufalls (HG 7) heißt es: vom löschen des durstes abgesehen/ist das hören des genitivs/der hosenträger der Erkenntnis. Schon Schulgrammatiken weisen darauf hin, dass der substantivische Genitiv ein höchst unzuverlässiger Kasus ist, weil er unter bestimmten Voraussetzungen eine Umkehr der Subjekt-Objekt-Relation erlaubt und somit eine doppelte Lesbarkeit ermöglicht. Hört der Genitiv etwas oder hört jemand den Genitiv? Denkt der Zufall selber oder denkt jemand an/über ihn? Verunsicherte Grammatik weicht die Semantik auf und relativiert die Logik – das Spiel wird gefährlich ernst.

4. Der Wortbereich

Wer über Pastior spricht oder schreibt, lässt sich überdurchschnittlich häufig zum Zitat verleiten, denn Pastior hat halt immer das treffendere Wort voraus. Darum ist mit reichlich Spielformen im Wortbereich zu rechnen. Sie bedienen sich phonologischer Mittel, haben andererseits oft schon den Text zur Voraussetzung, so dass sie sich allerdings nur künstlich und nicht immer genau heraussortieren lassen.

Wem wäre es denn schon aufgefallen, dass eine einfache Umkehr der Namenfolge des Philosophen Ernst Mach zur Ermahnung »Mach Ernst!« würde? Pastiors Text tacho eschnapur (FG 12-13) führt zusätzlich vor, was – mach sachen ach gemach – additiv, subtraktiv oder redensartlich mit »machen« sonst noch zu machen ist: mach huch das tor.

Vorzüglich scheinen sich für Wort-Spiele Komposita anzubieten, deren Teile verkehrt zusammengesetzt (sieben mal alpengehn, HG 55-59), vertauscht oder verschoben, getilgt oder ergänzt werden. Wie ergiebig sie eingesetzt werden können, belegt das Titelgedicht des Bandes Feiggehege (1991). Der Text (FG 14-15) stellt eigentlich ein großes Freigehege dar, in dem 136 Belege von Wortzusammensetzungen oder Attributionen mit -feig- (staubfeig, schuldfeig, einwandfeig, die feigheit die ich meine) zur Veranschaulichung dessen gehalten werden, wie mit fehlender Freiheit – von Freigehege spricht man ja nur bei deren Fehlen – die Feigheit zunimmt. Ein Beispiel für Möglichkeiten des politischen Gedichts bei Pastior? Warum nicht, eines unter anderen.

Ganz anders der lange Text mit dem kurzen Titel ist aus Feiggehege (FG 35-39). Er führt eine äußerst komplexe Sprachornamentik vor. Das Satzmodell ein zarter aal ist zäher als ein wüster abt – also ein Gleichsetzungsnominativ mit angeschlossenem Vergleich – bleibt durch alle 157 Zeilen gleich. Was sich ändert, ist zunächst die Substantivfüllung. Entsprechend den sieben Textabsätzen, werden sie siebenmal Zeile für Zeile durch andere ersetzt, die jeweils einer alfabetischen Liste entsprechen, während die Adjektive nach einer alfabetisch rückläufigen Liste rotieren, indem sie von Zeile zu Zeile je einen Platz vorrücken und der dritte Platz neu besetzt wird. »Ist aber nicht jeder gute Text auch eine Arabeske?« (VP 105) hat sich Pastior noch jüngst gefragt. Dieser ist gewiss eine vorzügliche.

Aussagetext oder Text als Ornament – für das Palindrom ist das kein Dilemma. Ornamental ist dessen rückläufige Lesbarkeit allemal, dass diese Lesung aber auch einen Sinn ergibt, gehört schon per definitionem dazu, auch wenn dieser Sinn nicht immer so zupackend ist wie in dem Silbenpalindrom nur cobai baikonur (KJ 131), wo Baikonur für das ehemalige sowjetische Raumfahrtzentrum steht, cobai aber, entlehnt von französischen »cobaia«, rumänisch so viel wie »Versuchskaninchen« bedeutet. Nur cobai baikonur – Silbenpalindrome wirkten gelegentlich wie Kalauer, und häufig nähmen sie die Form einer Definition an, hat Pastior als Fazit intensiven Experimentierens mit rückläufiger Lesbarkeit auf Silben-, Wort- und Textebenen erkannt (KJ 158). Der Band Kopfnuss Januskopf (1990) sammelt den Ertrag dieser Experimente. Das Titelpalindrom halte ich für den schönsten Fund, weil es die spielerische Textart mythologisch einprägsam legitimiert.

5. Der Textbereich

Gestalterische Manipulationen im Wortbereich treten sichtbar hervor, sobald sie sich auf einer dem Leser vertrauten Textfolie abheben. Darum legt sich Pastior häufig mit Vorgabetexten an – im textlichen Mikrobereich mit morphosyntaktischen Festfügungen, Redensarten, Sprichwörtern, geflügelten Worten oder geläufigen Zitaten, im Makrobereich mit populären Texten oder normativen Gedichtformen, wobei er grundsätzlich die textlichen Festfügungen nach dem Motto »transscriptase ist das schwalbe theben« (HG 30) verfahrenstechnisch oder durch lexikalische Neubelegung aufbricht. So kreuzte er beispielsweise in der Berliner Kontamination Die Baxer am Brückenwehr (TP 23-26; vgl auch JA 199-207; HG 130-132) einen Prosatext Kleists mit einem Gedicht Benns, indem er den Wortschatz des einen in die Syntax des andern umbettete, und da sich das »spielerische Puzzle« »als unheimliches Spiel auf eine nahe Zeitgeschichte zu« (JA 20) erwies, wiederholte er es in der Zweiten Berliner Ansteckung (HG 21-23) mit anderen Texten der beiden Autoren.

Unzweifelhaftes Meisterstück solcher Transkriptionstechniken ist, für mich zumindest, der Text Selbstinduktion (HG 86-87). Darin werden Verben und Substantive aus Goethes Prometheus in Umkehrfolge gebracht, und im überraschenden Ergebnis verkehrt sich Goethes rebellischer Text in Skepsis.

An Autoren wie Francesco Petrarca (Francesco Petrarca. 33 Gedichte, 1983) oder Wilhelm Müller (Gimpelschneise in die Winterreise-Texte von Wilhelm Müller, 1997) erkundet Pastior umfassend, »wie 'ihr' Schnabel 'mir' wächst« (LT 152), in den Bänden sonetburger (1983), Anagrammgedichte (1985), Eine kleine Kunstmaschine (1994) oder in Vilanella & Pantum (2000) erprobt er Chancen und Ergiebigkeit von Neutextungen streng normativer Gedichtformen, wohl wissend, dass seine Versionen einer andern Regel gehorchen und »eine andere Definition« (AG 9) darstellen.

Fast möchte man meinen, Pastiors Weg habe mit Notwendigkeit zu seinem jüngsten Band o du roher iasmin (2002) führen müssen, denn dieser stellt eine Art Summe aller Umtextungsmöglichkeiten auf der Grundlage sehr begrenzter Vorlagen dar. Autornamen, Buchtitel, zwei Gedichttitel und zwei herausgelöste Zeilen, sonst immer wieder und wieder der zum Kürzel werdende Gedichttitel Harmonie du soir veranlassen die dreiundvierzig »Intonatonen« Pastiors, die sich in normativen Gedichtformen wie Anagramm, Akronym, Sestine, Palindrom darbieten oder aber zu graphischen, lautlichen und – neu – semantischen Reihenbildungen führen. Kein so kleines Organon der Poesie Pastiors!

Einen Extremfall selbstbestimmter Sprache stellt sicher der schon erwähnte sonetburger wetscherahnenclub dar. Er enthält keine Wörter in herkömmlichen Sinn, erfüllt keine Bedingungen kommunikativer Sprache – und kommuniziert doch. Denn die Phonemblöcke jeder Zeile spiegeln genauestens Vers- und Reimschema des strengen Sonetts: assa – saas – blu – ulb – das ganze in zwei Quartetten und zwei Terzetten variiert – vierzehn Sonette gleichsam auf der Folie einer Sonettform ähnlich abgebildet wie einmal die Sestine in einer Sestinenstrophe (fortschreitender metabolismus in einer sestine, KM 8-9, 86) oder wie in der Eingangsstrophe »rohmais orphisch« von kolben und zehen (VP 69-70) aus Silbenblöcken ein »Pantum im Pantum« (VP 110) gebildet wurde: »Geprägte Form, die lebend sich entwickelt« und für die selbst die Grundlage Wort entbehrlich sein kann.

Ist das »Linguistikherbst« (HG 10)? Der »sonetburger« als spätzeitliches Fast-food-Angebot ehemals üppigerer poetischer Fleischeslust (1976)? Die Einschränkungsregeln des Sonetts hat Pastior schon einmal als »Fastenkorsett« (JA 102) bezeichnet, und vom Anagramm hat er gesagt, es habe »die Nüchternheit zur Leere« (AG 9). Freilich hat er auch eingeräumt, gelegentlich sei es ein »Bilderbogen, dem die Augen aufgehen« (AG 10).

Zur Frage nach dem Wie dieser Texte tritt also auch – »sieh da, sieh dort!« (UN 22) – jene nach dem Was, vorsichtig eingegrenzt durch die Warnung, das Ergebnnis sei »nicht unter dem Strich zu haben, sondern unterwegs« (FG 100) – im gemeinsamen Unterwegs von Autor, Text und Leser.

Gewiss bewegt nicht wenige Leser auch die Frage nach dem Warum des »genuinen Kausalats« (HG 7) fieberhaften Sprechens. Als »Krisengestirn[e]«, die den »Verlust des Zentrums« (KF 104) signalisierten, hat Pastior die Lieder und Balladen seines Krimgotischen Fächers (1978/1985) bezeichnet. Indem er geliebte überständige Harmonien und Utopien dekonstruiert, reagiert er künstlerisch wie er sagt, auf den generellen Verlust von Teleologien und »linear tröstenden Finalitäten in Fortschritt und Geschichte« (FV 55-56). Er schaffe derlei Unordnungen, um die poetischen Dinge in einer Weise neu zu ordnen, die durchaus Sinn mache, heißt es weiter, und so lassen sich seine poetischen Normbrüche als »widerläufig geknüpfte Haken im Fleich der Zeit« (FV 53) lesen, durch die sich dieser Autor, dem das 20. Jahrhundert seine Instrumente nicht nur gezeigt, sondern sie auch an ihm geübt hat, frei spielt von normativen Zwängen und der »Vereinnahmung durch totale Zeichensysteme«. (JA 56).

Gebrauchte Siglen für zitierte Pastior-Bände

AG Anagrammgedichte. München: Renner 1985
FG Fieggehege. Berlin: Literarisches Collequium 1991
FV Das Unding an sich. Frankfurter Vorlesungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994
GG Gedichtgedichte. Darmstadt Neuwied: Luchterhand1973
GS Vokalisen & Gimpelstifte. München Wien: Hanser 1992
HG Das Hören des Genitivs. München Wien: Hanser 1992
Ja Jalousien Aufgemacht. Ein Lesebuch hrsg. von Klaus Ramm. München Wien: Hanser 1987
KF Der Krimgotische Fächer. Erlangen: Renner 1978
KJ Kopfnuss Januskopf. München Wien: Hanser 1990
KM Eine kleine Kunstmaschine. München Wien: Hanser 1994
LT Lesungen mit Tinnitus. München Wien: Hanser 1986
RI o du roher iasmin. Weil Basel: Urs Engeler 2002
TP Ein Tangopoem und andere Texte. Berlin: Literarisches Colloquium 1978
UN Urologe kuesst Nabelstrang. Augsburg: Maro 1991
WR Gimpelschneise in die Winterreise-Texte von Wilhelm Müller. Weil Basel: Engeler 1997