Mehr als 5.000 Studierende haben im Laufe der Zeit an der Seminarreihe Schlesische Begegnungen von Haus Schlesien in Königswinter teilgenommen. Kein Wunder: Neben neuen Eindrücken und viel Wissen bringen die jungen Menschen auch studienrelevante Leistungen mit nach Hause. Von Dieter Göllner
Juli 2019 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1428
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Breslauer Seminarteilnehmer im Haus Schlesien bei der Besichtigung der Sonderausstellung »Zwischen Revolution und Ruhrbesetzung. Die Folgen des Ersten Weltkrieges für Schlesien«. Foto: Dieter Göllner

Die Bibliothek von Haus Schlesien ist voll besetzt. Auf dem Tisch, um den eine Gruppe interessierter Leser sitzt, häuft sich alte und sehr alte Literatur, die aus den prall gefüllten Regalen entnommen wurde. An einer Stelle wird im Stehen geblättert, am anderen Tischende konzentriert über das Entdeckte »gefachsimpelt«. Die »Leseratten-Gruppe« setzt sich aus Geschichtsstudierenden, Doktoranden und Multiplikatoren vom Historischen Institut der Universität Breslau zusammen. »Die 25 Teilnehmer sind alle sprachlich fit und besitzen fundiertes Wissen«, schwärmt Adam Wojtala, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Haus Schlesien. »Das Interesse dieser Seminargruppe ist so groß, dass viele von ihnen auch außerhalb des Programms vor den wertvollen Dokumenten sitzen.«

Seit mehr als zwanzig Jahren ist sie im Haus Schlesien – Deutsches Kultur- und Bildungszentrum e.V. Königswinter-Heisterbacherrott fester Bestandteil des umfassenden Veranstaltungskalenders: die Seminarreihe mit dem Titel Schlesische Begegnungen. Im Frühjahr und im Herbst – insgesamt acht bis zehn Mal pro Jahr – sind in diesem Rahmen polnische Studierende zu Gast in der rheinländischen Einrichtung.

»Meist ist der sechstägige Aufenthalt zu kurz – so mancher ist mehr als einmal zu uns gekommen. Etliche Studierende aus den ersten Jahren kommen nicht selten als Gruppenbetreuer wieder«, ergänzt Wojtala, der aus Neiße/Nysa stammt. Die Zahlen sprechen für sich: Beim Jubiläumsseminar im Herbst 2016 wurde der 5000. Teilnehmer gezählt, bis dahin hatten 150 Studierendengruppen das Haus besucht.

In diesem Jahr fanden bereits die ersten vier Seminarblöcke statt, an denen insgesamt 100 Studierende teilnahmen. Zu den Gästen zählten eine Gruppe von der Philologischen Hochschule Breslau/Wrocław, Vertreter der Fachhochschule Ratibor/Racibórz, Historiker von der Universität Breslau und Germanistikstudierende vom Philologischen Institut der Universität Oppeln/Opole.

Mehr als die Faszination Bücherschatz

Tomasz Sielicki recherchiert zum Thema Nahverkehr & Straßenbahn in Breslau | Foto: © Dieter GöllnerTomasz Sielicki recherchiert zum Thema Nahverkehr & Straßenbahn in Breslau | Foto: © Dieter Göllner

Zu ihnen zählt Robert Piotrowski. Er ist zum ersten Mal dabei und resümiert: »Es hat sich gelohnt.« Am Seminar habe er aus reiner Neugier teilgenommen. »Ich wollte was Neues erleben. Wir hatten ein interessantes Besuchsprogramm, und es waren auch Tage intensiver und tiefgründiger Arbeit.« Sein Forschungsgegenstand ist Landsberg an der Warthe, »aber ich stelle fest, dass man bei der Recherche an Schlesien nicht vorbeikommt – egal welches Thema gerade im Fokus steht«.

Keine Unbekannte im Haus Schlesien ist Dr. Anna Gruzlewska. Zum einen recherchiert sie hier schlesische Bezüge zur jüdischen Geschichte und ist zum anderen stolz, dass ihre Doktorarbeit in der Bibliothek von Haus Schlesien hinterlegt ist. »Ich arbeite viel auch mit der Uni Breslau zusammen und freue mich jetzt über die Möglichkeit, die hauseigene Büchersammlung von Haus Schlesien kennenzulernen.«

Und auch der Breslauer Tomasz Sielicki, der an der Universität seiner Heimatstadt Geschichte studiert hat und sich intensiv mit dem Thema Nahverkehr und Straßenbahn in Breslau befasst, gesteht: »Auch wenn ich zu Hause viel Recherchematerial durchforstet habe, entdecke ich hier Details, die ich noch nicht kannte.Diese Infos werde ich später in meine Sachbücher einfließen lassen.«

Während sich die »Bibliothek-Fans« weiter in ihre Studienarbeit vertiefen, begeben sich andere  Seminar-teilnehmer in den großen Ausstel-lungssaal, um die deutsch-polnische Sonderschau  Folgen des Ersten Weltkrieges für Schlesien zu besichtigen.

Professor Tomasz Przerwa, Mitarbeiter des Historischen Instituts der Universität Breslau, ist bereits zum vierten Mal mit einer Seminargruppe zu Gast im Haus Schlesien. »Den letzten Tag unseres Aufenthaltes haben wir thematisch der Nachkriegszeit gewidmet«, sagt Przerzwa, der die Geschichte des Tourismus im Riesengebirge erforscht. »Sehr passend für die Teilnehmer war daher die Möglichkeit, die Ausstellung Zwischen Revolution und Ruhrbesetzung. Die Folgen des Ersten Weltkrieges für Schlesien kennenzulernen und deren Inhalte zu vertiefen. Die Gruppe ist sowohl vom Konzept als auch von den Exponaten und deren Wirkung fasziniert.«

Projektleiter Adam Wojtala lobt derweil das »ausgeprägte historische Interesse« der Teilnehmer. »Es gelingt uns jedes Mal, ein vielfältiges Programm anzubieten, das verständigungspolitische Aspekte mit historischem Wissen verbindet.« Somit wurde für die Geschichtsstudierenden der Besuch bei der Breslauer Sammlung in Köln als Programmpunkt gewählt. Hier hatten die Teilnehmer nicht nur Gelegenheit, die reiche Sammlung zu erkunden, sondern es gab auch die Möglichkeit zum Austausch mit einer Zeitzeugin, die im Breslau der Vorkriegszeit als Lehrerin gearbeitet hatte.

Ein Programmpunkt war auch die Eröffnung der Sonderausstellung Der Erste Weltkrieg im Schatten des Riesengebirges im Haus Schlesien mit Ivo Łaborewicz, dem Leiter des Staatsarchivs Hirschberg. Als spannend bewerteten die Teilnehmer den Besuch des Europäischen Burgeninstituts in Braubach und die Exkursion zum Deutschen Eck in Koblenz. Hier setzten sich die Studierenden mit den Mythen und Eckdaten der deutschen Geschichte auseinander. Guter Resonanz erfreute sich die Lesung und Diskussionsrunde mit Dr.Vasco Kretschmann, Kulturreferent für Oberschlesien in Ratingen und Autor des Buches Breslau museal. Es ging u. a. um die Breslauer Museumslandschaft in Vergangenheit und Gegenwart, aber auch um deutsch-polnische Zusammenarbeit und binationale Projektperspektiven.
Seminarteilnehmer an einer interaktiven Station der Ausstellung | Foto: © Dieter GöllnerSeminarteilnehmer an einer interaktiven Station der Ausstellung | Foto: © Dieter Göllner

Studierenden-Reihe als Bildungsauftrag

Das Dokumentations- und Informationszen­trum von Haus Schlesien konzipiert und organisiert die vom Bundesministerium des Innern geförderten Projekte Schlesische Begegnungen als Teil seines Bildungsauftrages. Die Programme werden in Kooperation mit polnischen Hochschulen sowie mit dem Historischen Institut und dem Germanistischen Institut der Universität Bonn und dem Gerhart-Hauptmann-Haus Düsseldorf abgehalten.

Die frühere Geschäftsführerin von Haus Schlesien, Petra Meßbacher, hatte vor über zwanzig Jahren gemeinsam mit Adrian Sobek die ersten Kontakte zu Hochschulen in Nieder- und Oberschlesien sowie im Teschener Land aufgenommen, um Studierendenbesuche abzustimmen. Vor dem Hintergrund der damaligen politischen Lage in Europa herrschte unter den jungen Menschen eine gewisse Skepsis, die sich jedoch im Laufe der Jahre in Interesse und Neugierde umgewandelt hat.

Zum Programm der früheren Begegnungen gehörte neben der Erörterung kultureller und politischer Themen vor allem die Förderung des generationenübergreifenden Dialoges zwischen polnischen Studierenden und schlesischen Vertriebenen. So strebte man eine offene Gesprächskultur an, von der beide Seiten profitieren sollten. Das Konzept zeigte bald positive Ergebnisse, da die jungen Leute und die Vertreter der Erlebnisgeneration begannen, sich schrittweise mit der gemeinsamen Geschichte und der ihnen bekannten Kulturlandschaft auseinanderzusetzen.

Mittlerweile bringen die Studierenden viel Offenheit, Wissensdurst und Neugier mit. Sie fühlen sich als Europäer, für die die Auseinandersetzung und der Dialog mit Gleichaltrigen und Zeitzeugen sehr wichtig sind, beobachtet Nicola Remig, die Leiterin des Dokumenta­tions- und Informationszentrums. Ziel der Veranstalter sei es, den Teilnehmern einen neuen Blick auf vermeintlich einfache Sachverhalte zu ermöglichen. »Vor allem muss man darauf achten, dass die junge Generation grenzüberschreitend im Austausch bleibt, damit Europa nicht auseinanderdriftet«, konstatiert Remig.

Das Angebot richtet sich vorrangig an Germanistische Institute. Aber auch Historiker und Soziologen, Lehrer und Kommunalpolitiker sowie Vertreter der deutschen Minderheit aus den Wojewodschaften Oppeln und Oberschlesien folgen der Einladung ins Rheinland. Eine besonders enge Verbindung ist mit der weltweit größten Auslandsgermanistik an der Universität Breslau entstanden.

Zum Abschluss ihres Aufenthaltes müssen die Projekt-Teilnehmer vor einem Prüfungsgremium ihre Ergebnisse in Form von Referaten präsentieren. Hierfür erhalten sie die für das Bachelor-Studium relevanten ECTS-Punkte, und damit sind die Schlesischen Begegnungen und das Haus Schlesien auch ein Teil der akademischen Ausbildung in Polen. Studierende wie Robert Piotrowski freut es. Er nimmt neben neuen Eindrücken und Wissen auch studienrelevante Leistungen mit nach Hause.

Die angehenden Historiker von der Universität Breslau sind vom Bücherschatz der Bibliothek von Haus Schlesien beeindrucktDie angehenden Historiker von der Universität Breslau sind vom Bücherschatz der Bibliothek von Haus Schlesien beeindruckt | Foto: © Dieter Göllner